Das gab es in der Geschichte des Polittalks am Freitagabend noch nie: In der Hauptrunde der «Arena» waren ausschliesslich Menschen mit Behinderungen vertreten.
Die Sendung widmete sich der ersten Behindertensession, welche gleichentags stattgefunden hatte und von Nationalratspräsident Martin Candinas initiiert worden war. Die zentrale Forderung: Die gelebte Gleichbehandlung und Selbstbestimmung der 1.8 Millionen Menschen mit Behinderungen, die in der Schweiz leben.
«An einem halben Tag kann man die Welt nicht neu erschaffen, aber nun müssen Taten folgen», sagte Islam Alijaj in der «Arena». Der Behindertenrechtsaktivist und Zürcher SP-Gemeinderat war einer der 44 Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die in die Behindertensession gewählt worden waren.
Dass Menschen mit Behinderungen noch nicht ganz in die Gesellschaft integriert seien, zeige sich etwa beim öffentlichen Verkehr: «Längst nicht alle Haltestellen und Fahrzeuge sind barrierefrei. Dass ich Stunden auf ein Niederflurtram oder den richtigen Zug warten muss, finde ich einen Skandal. Ich muss meine Lebenszeit hergeben, nur weil die Strukturen nicht vorhanden sind.» Diskriminierung gebe es aber auch im Arbeitsmarkt. Menschen mit Behinderungen könnten sich keine Altersvorsorge aufbauen, weil ihre IV-Rente das verhindere, so Alijaj. «Wir müssen in die Politik, um das zu korrigieren.»
«Was für andere selbstverständlich ist, soll auch für uns selbstverständlich sein», sekundierte Simone Leuenberger, Gymnasiallehrerin und Berner EVP-Grossrätin. «Wir sind nicht bemitleidenswerte Wesen mit besonderen Bedürfnissen. Wir sind Menschen wie alle anderen; Bürgerinnen und Bürger, die ihr Land mitgestalten wollen.»
Leuenberger, die aufgrund einer Muskelkrankheit auf den Rollstuhl angewiesen ist, regte ein Umdenken an: «Bei jedem Gebäude, das neu gebaut wird, werden ganz selbstverständlich Brandschutzvorschriften eingehalten. Aber ein barrierefreier Zugang wird nicht mitgedacht. Dies, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass das Haus abbrennt, kleiner ist als die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person in das Haus einziehen möchte, die die Treppe nicht überwinden kann.»
Damit dieses Umdenken stattfinden kann, nahm Daniel Knöpfel, Koch und Behindertensportler, auch die anwesenden National- und Ständeräte in die Pflicht. Er plädierte dafür, die Sichtweise zu ändern, und schlug vor, dass auch Politikerinnen und Politiker einmal Zeit in einer Institution für Menschen mit Behinderung verbringen sollten. So sähen sie, wie viel Aufwand etwa das Verpacken von Wahlunterlagen bedeute – eine Arbeit, die oft kaum entlöhnt werde.
Knöpfel unterstrich, dass in puncto politischer Teilhabe noch einiges zu tun sei. So sollten etwa Abstimmungsunterlagen in einer einfacheren Sprache formuliert werden: «Dann würden auch mehr Menschen mit Behinderungen wählen gehen.»
Sprachliche Hürden kennt auch Tatjana Binggeli, Präsidentin des Schweizerischen Gehörlosenbunds, wissenschaftliche Medizinerin und selbst gehörlos. Schon als Kind habe sie als Gehörlose nicht denselben Zugang zu Bildung gehabt wie Hörende.
«Wirklich an der Gesellschaft teilhaben können wir oft nur wenig. In vielen Lebensbereichen sind wir ausgeschlossen.» Dies in erster Linie, weil keine Gebärdensprache gesprochen werde und ihnen so der Zugang zu Informationen verwehrt sei. Die Finanzierung von Gebärdensprach-Dolmetscherinnen sei dabei nicht genügend geregelt, so Binggeli. «Inklusion kann dadurch in der Realität nicht gelebt werden.»
Darüber, dass die durch die Behindertensession angestossene Diskussion nicht nur symbolisch bleiben dürfe, waren sich die Gäste im Studio einig. Der Leiter der Behindertensession, Mitte-Nationalrat Christian Lohr, hat auf jeden Fall bereits angekündigt, dass es eine zweite Ausgabe der Session geben werde.