Der Anlass: Vor der internationalen Aids-Konferenz ruft die WHO zu einem entschlossenen Kampf gegen HIV und damit verbundene Stigmata auf. Die Zahlen der Neuinfektionen und der Todesfälle stiegen in der WHO-Region Europa an, das Epidemie-Geschehen sei dort jedoch sehr ungleich verteilt, sagte WHO-Regionaldirektor Hans Kluge der deutschen Nachrichtenagentur DPA.
Immense Unterschiede in Europa: «Die Situation in der europäischen Region ist eine der dramatischen Gegensätze», ergänzte der Belgier. Manche Länder hätten die Übertragung von HIV fast vollständig gestoppt und stünden kurz davor, sagen zu können, dass das Ende von Aids in Sicht sei. In anderen blieben die Sterberaten dagegen weiterhin inakzeptabel hoch. HIV-Diagnosen erst im Spätstadium seien heute noch ein Problem und man müsse sich dringend mit der weit verbreiteten Stigmatisierung der Betroffenen auseinandersetzen.
«Aids-Müdigkeit» herrscht: Kluge hegt Hoffnungen, dass die Welt-Aids-Konferenz das Thema wieder stärker ins Bewusstsein rückt. «Die Konferenz findet auch zu einem Zeitpunkt statt, an dem das Thema HIV/Aids in vielen Teilen der Welt von der Bildfläche verschwunden zu sein scheint», sagte er. Es sei von «Aids-Müdigkeit» die Rede bei einem Thema, das einst weltweit eine weitaus grössere Rolle gespielt habe. Heute müsse man gleich eine ganze Reihe an Gesundheitsherausforderungen meistern – dennoch könne man es sich nicht leisten, bei der Bekämpfung von HIV und Aids nachzulassen.
Erfolgreicher Kampf: Insgesamt sei die Welt im Kampf gegen HIV und Aids sehr weit gekommen, lobte Kluge. Jahrzehntelang sei eine HIV-Diagnose für Millionen von Menschen einem Todesurteil gleichgekommen, doch dann habe sich die Antiretrovirale Therapie (ART) als «Game-Changer» erwiesen. Zwischen 2000 und 2021 sei die weltweite Zahl der HIV-Neuinfektionen um satte 49 Prozent gefallen, die der HIV-bedingten Todesfälle gar um 61 Prozent.
Hoffnungsschimmer aus Deutschland: Derweil wurde vor wenigen Tagen bekannt, dass ein weiterer HIV-Patient geheilt worden sei. Bei dem als «zweiten Berliner Patienten» bezeichneten Mann sei das Virus trotz abgesetzter antiviraler Therapie seit mehr als fünf Jahren nicht mehr nachweisbar, so Forscher der Berliner Charité. Damit sei er als dritter Mensch in Deutschland und – je nach Zählweise – als sechster oder siebter Mensch weltweit als geheilt anzusehen.
HIV und Blutkrebs: Der heute 60-Jährige wurde 2009 positiv auf HIV getestet. Ihm wurden Stammzellen einer gesunden Spenderin inklusive Immunsystem übertragen. «Das Spenderimmunsystem übernimmt sozusagen die Kontrolle», erläuterte Olaf Penack, Oberarzt der Klinik mit Schwerpunkt Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie. Das Besondere an diesem Fall sei die Behandlungsmethode, sagte Christian Gaebler, Arbeitsgruppenleiter an der Klinik für Infektiologie und Intensivmedizin der Charité.
Forschende staunten: Nach der Stammzellspende bekam der Patient auch eine «antiretrovirale Therapie». Er setzte diese 2018 aus eigener Entscheidung ab. Er sei schon lange der Überzeugung gewesen, geheilt zu sein, so die Forscher. Seitdem gebe es keinen Hinweis auf eine erneute Virusvermehrung, sagte Gaebler. «Wir waren alle sehr erstaunt und erfreut.» Die Forscher untersuchen aktuell, wie der Erfolg zu erklären ist. Eine Rolle könne spielen, dass das Immunsystem des Erkrankten schnell durch das Spenderimmunsystem ersetzt worden sei, so Gaebler.