Paul Rechsteiner steht seit 20 Jahren an der Spitze des Gewerkschaftsbundes. Jetzt aber gibt der St.Galler sein Amt ab, am Wochenende wählt der SGB einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin. Die Bilanz Rechsteiners als Präsident der grössten Arbeitnehmerorganisation der Schweiz lässt sich sehen.
Ein profilierter Kommunikator
Rechsteiner habe das politische Profil des Gewerkschaftsbundes geschärft, stellt der Basler Historiker Bernard Degen fest. Er ist ein Experte für die Geschichte der Schweizer Arbeiterbewegung.
Die politische Kommunikation sei unter Rechsteiner schärfer geworden. «Die Forderungen wurden klarer formuliert», sagt Degen. Rechsteiner pflegte die kämpferische Rhetorik auf politischer Ebene seit 1986. Damals wurde er erstmals für die Sozialdemokraten in den Nationalrat gewählt.
Erfolgreicher Kampf für Mindestlöhne
Wenn Rechsteiner ein Ziel auf politischem Weg nicht erreichen konnte, wurde er in der Gewerkschaft aktiv. So beschloss der SGB auf demselben Kongress, auf dem Rechsteiner 1998 zum Präsidenten gewählt wurde, eine Initiative für Mindestlöhne von 3000 Franken.
Zwar scheiterte das Volksbegehren an der Urne – doch die Ziele der Initiative wurden seither in Verhandlungen mit den Unternehmen und ihren Verbänden dennoch schrittweise durchgesetzt. Heute gebe es in der Schweiz kaum noch Monatslöhne unter 4000 Franken, bilanziert Degen.
Der Historiker betont, dass sich Sozialpartnerschaft und Konfrontation zwischen Arbeitgebern und -nehmern nicht ausschliesse. «Das Wichtigste ist, dass man sich nach einer Konfrontation wieder einigt und Lösungen für gewisse Probleme finden kann.» Das sieht Thomas Daum, während vieler Jahre Direktor des Arbeitgeberverbandes, ähnlich.
Bilaterale – mit ein Verdienst der Sozialpartner
Über seinen damaligen Kontrahenten Rechsteiner sagt Daum heute: «Man war sich nicht immer einig. Aber man hatte Respekt voreinander.» Das war auch beim wichtigsten Thema in Rechsteiners Amtszeit so, den Bilateralen Verträgen mit der EU. So wollten die Unternehmer unbedingt die Personenfreizügigkeit, die Gewerkschaften pochten dagegen auf den Schutz der Schweizer Löhne und Arbeitsbedingungen.
Schliesslich einigten sich beide Seiten auf ein mehrheitsfähiges Paket aus Personenfreizügikgeit und flankierenden Massnahmen, das beide Seiten akzeptieren konnten. «Das ist auch ein Erfolg der Sozialpartner», sagt Daum. Man habe sich immer wieder zusammengerauft und so der Schweizer Wirtschaft den Weg in die Europäische Union geöffnet.
Bundesrat setzt Sozialpartnerschaft aufs Spiel
Dieser Erfolg stehe jetzt aber auf der Kippe, bedauert Daum. Indem der Bundesrat rund um die Verhandlungen um ein institutionelles Abkommen mit der EU den Lohnschutz zur Diskussion gestellt habe, habe er die Gewerkschaften unnötig provoziert. «Diese Reaktion war vorhersehbar», sagt Daum.
Man habe sich auf politischer Seite viel zu wenig mit den Positionen der Gewerkschaften auseinandergesetzt. Deshalb seien Fehler gemacht worden, die zur aktuell blockierten Situation geführt hätten.
Ohne Gewerkschaften keine Sozialpartnerschaft
Die Zeiten, als der Gewerkschaftsbund fast eine halbe Million Mitglieder vertrat, sind vorbei. Gemäss Angaben des SGB hat er aktuell noch rund 380'000 Mitglieder. Die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, wie etwa der Trend zu flexibleren und individuelleren Arbeitsverhältnissen, machen sich bemerkbar. Das ist eine Herausforderung für die ganze Gesellschaft.
Gerade deshalb seien die Gewerkschaften wichtig, sie müssten ernst genommen werden. Das sagt nicht etwa der Gewerkschafter, sondern der frühere Arbeitgeber-Präsident Daum. Wenn die Gewerkschaften als Ansprechpartner wegfallen würden, drohten auch in der Schweiz Verhältnisse wie in Frankreich mit den aktuellen Demonstrationen der «Gilets Jaunes»: «Alles löst sich auf, vernünftige Dialoge sind nicht mehr möglich. Eine solche Situation wäre für die Schweiz von grossem Nachteil.»
Es wird zu den grossen Aufgaben von Rechsteiners Nachfolger oder Nachfolgerin an der Spitze des SGB gehören, eine solche Situation zu verhindern.