Die Gewerkschaften sprechen von einer historischen Kaufkraftkrise. Historisch deshalb, weil die Kaufkraft drei Jahren in Folge gesunken ist – das gab es seit Jahrzehnten nicht mehr. Und Kaufkraftkrise, weil sich die Arbeitnehmenden mit ihren Löhnen in den letzten Jahren jedes Jahr etwas weniger kauften als das Jahr zuvor.
Die Löhne sind zwar jedes Jahr gestiegen, aber eben nur auf dem Papier. Denn gleichzeitig stiegen die Preise mehr als die Löhne. Und so sind die Löhne real – also abzüglich der Teuerung – um insgesamt drei Prozent gesunken.
Das trifft nicht alle gleich stark. Es gab Branchen, in denen letztes Jahr die Löhne real wieder gestiegen sind, zum Beispiel im Maschinenbau oder der öffentlichen Verwaltung. Und die Teuerung trifft beispielsweise jene mehr, die eine neue Wohnung mieten wollen oder müssen, obschon die Mietpreise besonders stark gestiegen sind.
Im Schnitt drei Prozent weniger Kaufkraft – wie konnte es so weit kommen?
Eigentlich waren die Gewerkschaften in einer starken Verhandlungsposition: Im Aufschwung nach der Pandemie haben die Arbeitgebenden viele neue Stellen geschaffen, die Arbeitslosigkeit war tief und ist es heute noch, und die Arbeitgeber klagten über einen Arbeitskräftemangel.
Das Problem war aber, dass sich sowohl Arbeitgeber wie Gewerkschaften erst wieder an Lohnverhandlungen in Zeiten steigender Preise gewöhnen mussten. Man war etwas aus der Übung: Bei tiefer oder sogar negativer Teuerung konnten sich die Arbeitnehmenden mehr kaufen, auch wenn die Löhne stagnierten. Bei steigenden Preisen müssen die Löhne mit der Inflation mithalten.
Die Mathematik ist einfach, aber plötzlich musste wieder hart verhandelt werden. Aus Gewerkschaftskreisen hört man, dass sich die Mitglieder erst wieder trauen mussten, solch zahlenmässig hohe Forderungen zu stellen.
Travailsuisse betont aber, dass man schnell umgeschaltet habe und ihre Verbände zum Teil durchaus gute Resultate erzielt hätten. Und auch die Arbeitgeber verweisen auf die gewährten Lohnerhöhungen. Die gab es auch, aber eben nicht im Umfang der Teuerung.
Höhere Reallöhne erwartet
Dieses Jahr sieht es besser aus: Die Reallöhne sollten wieder leicht steigen. Um ein halbes Prozent prognostiziert die Konjunkturforschungsstelle der ETH. Die Preise steigen nicht mehr so stark wie im letzten Jahr und auch weniger stark als Anfang Jahr angenommen. Damit sind die ausgehandelten Lohnerhöhungen mehr wert.
Die Kehrtwende ist also wahrscheinlich geschafft. Damit ist man aber noch weit von der Forderung der Gewerkschaften entfernt, die Lohneinbussen der letzten drei Jahre auf einmal zu kompensieren – dafür wird es mehr als eine Verhandlungsrunde brauchen.