In einem Interview der Tagesschau forderte Valentin Vogt, Präsident des Arbeitgeberverbandes, dass man nach der Impfung der Hochrisikopatienten umgehend lockern soll. Vogt meinte, bis 30'000 Neuinfektionen pro Tag könne man verkraften. Politikwissenschaftler Patrick Emmenegger ordnet die Aussagen ein.
SRF News: Valentin Vogt ist mit einer überraschenden Forderung vorgeprescht. Was will er damit erreichen?
Er will damit sicherlich ein Signal setzen. Die Frage ist, wer der Adressat dieses Signals ist. An der Basis des Arbeitgeberverbandes brodelt es. Da gibt es viel Unzufriedenheit. Viele Stimmen drängen auf eine frühere Lockerung. Mit einer solchen Stellungnahme sendet man auch ein Signal an die eigene Basis: Wir hören euch.
Gleichzeitig ist es so, dass wir uns in einer Phase befinden, in der wir nicht wissen, wie es weitergehen soll. Es herrscht viel Unsicherheit. Auf Seiten der Arbeitgeber besteht der Wunsch, dass man eine Öffnung, eine Lockerung anstrebt – lieber früher als später. Und wenn man mit solchen öffentlichen Stellungnahmen eine Mehrheit schaffen könnte für eine etwas frühere Öffnung – im Parlament, in der Öffentlichkeit, im Bundesrat – dann wäre das sicherlich auch im Interesse des Absenders.
Die eigentliche Aussage war: Lieber nicht zu vorsichtig handeln, lieber auch an die Öffnung denken.
Für die Aussage, dass man 30'000 Neuinfektionen in Kauf nehmen könne, hat Herr Vogt viel Kritik geerntet. Warum tut er das?
Die Zahl an sich war natürlich unglücklich. Und sie hat von der eigentlichen Aussage abgelenkt. Die eigentliche Aussage war: Lieber nicht zu vorsichtig handeln, lieber auch an die Öffnung denken. Wir brauchen einen Plan und wollen der Wirtschaft, den verschiedenen Akteurinnen und Akteuren, die unter Druck stehen, eine Zukunft bieten. Die sind nervös, denen brennt es unter den Nägeln. Denen müssen wir eine Zukunft bieten. Entsprechend sollte man besser früher öffnen als später.
Wie wichtig ist es für Wirtschaftsverbände, sich mit solchen Forderungen zu positionieren?
Wirtschaftsverbände positionieren sich laufend mit solchen Forderungen. Wir nehmen dies in der Öffentlichkeit nicht immer so wahr. Wirtschaftsverbände haben in der Regel andere Möglichkeiten, sich politisch einzusetzen. Sie sitzen in Kommissionen und haben Kontaktpersonen in den Bundesämtern und beim Bundesrat. Normalerweise werden wirtschaftsrelevante Fragestellungen von politischen Entscheidungsträgern mit den Wirtschaftsdachverbänden – sowohl gewerkschaftlich als auch auf der Arbeitgeberseite – im Vorfeld abgesprochen.
Das Problem ist, dass wir derzeit sozusagen einen zweiten Machtpol haben, nämlich die wissenschaftliche Taskforce, die tendenziell eher für schärfere Massnahmen eintritt. Damit funkt sie in den privilegierten Kanal, den die Wirtschaftsdachverbände normalerweise mit dem Bundesrat, mit den Kommissionen und mit dem Parlament haben, hinein.
Man geht immer in eine Verhandlung und verlangt tendenziell ein bisschen mehr, wohlwissend, dass man noch ein bisschen nachgeben kann.
Inwieweit passt die «Basar-Taktik» – das Doppelte oder Mehrfache von dem fordern, das man selbst anstrebt – zur Kompromisskultur in der Politik?
Kompromiss bedeutet immer, dass man vorher verhandelt. Kein Mensch geht in eine Verhandlung und sagt: «Das ist das, was ich möchte. Ich habe keinen Verhandlungsspielraum mehr. Ich kann nicht weiter entgegenkommen.»
Man geht immer in eine Verhandlung und verlangt tendenziell ein bisschen mehr, wohlwissend, dass man noch ein bisschen nachgeben kann. Diese «Basar-Taktik» gehört zu einer Kompromiss-Kultur, solange man letzten Endes auch immer beim Kompromiss landet. Das hat in der Vergangenheit in der Schweiz in der Regel gut geklappt.
Das Gespräch führte Annik Ott.