Die Firmen Nord Stream und Nord Stream 2 sind wirtschaftlich tot. Deren Gas-Pipelines liegen grösstenteils als Ruinen auf dem Grund der Ostsee. Kein Gas fliesst, die Rohstoff-Rubel rollen seit fast 1.5 Jahren nicht mehr.
Eigentlich müssten die Gesellschaften längst ihre Bilanzen deponiert haben. Und doch herrscht Betrieb an beiden Hauptsitzen in Zug und Steinhausen/ZG. Wie kann das sein?
SRF fragt nach und stösst grösstenteils auf eine Mauer des Schweigens. Was hinter den Fassaden der Unternehmen geschieht, ist unklar.
Zumindest einige Informationen sind über Nord Stream 2 in Erfahrung zu bringen. Das Unternehmen wurde 2015 unter dem Namen «New European Pipeline» in Zug gegründet. Das war 10 Jahre, nachdem das erste Nord-Stream-Unternehmen seine Arbeit aufgenommen hatte, damals als «NEGP Company».
Die Pipelines, die russisches Gas direkt über den Meeresboden nach Deutschland bringen sollten, hat der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder gemeinsam mit dem russischen Präsidenten vorangetrieben. Kanzlerin Angela Merkel setzte die Strategie fort, obwohl Nord Stream von Anfang an international umstritten war.
Nord Stream 2 ist nie in Betrieb gegangen, der amtierende Kanzler Olaf Scholz hatte zwei Tage vor Kriegsbeginn, am 22. Februar 2022, die Lizenzierung gestoppt. Kurz darauf sanktionierten die USA das Unternehmen und legten es damit weitgehend lahm, bevor es operativ werden konnte.
Dennoch: Es existiert weiter. Am 10. Januar 2024 wurde zum dritten Mal die Nachlassstundung verlängert. Das Unternehmen hat sogar nach den Sabotagen noch seinen Sitz verlegt, von Büros in Zug in ein eigenes Gebäude im angrenzenden Steinhausen.
Laut Philipp Possa war dies von Anfang an vorgesehen. Er ist als Sachwalter eingesetzt worden. Ein Interview lehnt er ab, aber er gibt per E-Mail Auskunft. Bei Nord Stream 2 arbeiteten noch rund 20 Personen. Nach der Sanktionierung durch die USA sind mehr als 100 Angestellte entlassen worden. Philipp Possa schreibt: «Das Unternehmen hält das notwendige Personal zur Sicherung der Pipeline und möglicher Gesundheits-, Sicherheits- und Umweltrisiken.»
Schweiz kann nicht eigenständig sanktionieren
Die Schweiz hat die Sanktionen nicht übernommen. Das Unternehmen ist hierzulande in seiner Geschäftstätigkeit nicht eingeschränkt. Simon Plüss, beim Staatssekretariat für Wirtschaft Seco zuständig für Sanktionen, sagt: «Wenn man US-Sanktionen übernehmen wollte, müsste das der Bundesrat entscheiden.»
Eigene Sanktionen kann die Schweiz nicht aussprechen. Das Gesetz sieht nur eine Übernahme von Sanktionen vor. Die Schweiz übernimmt nur Sanktionen der UNO, weil sie völkerrechtlich legitimiert sind und die Schweiz selbst UNO-Mitglied ist. Die Übernahme der EU-Sanktionen ist eine politisch gewollte Ausnahme. US-Sanktionen hat die Schweiz noch nie übernommen.
Die Schweiz will sich mit den Russen nicht alles verderben.
Laut dem emeritierten Strafrechtsprofessor Mark Pieth zeigt die Schweiz schon immer Zurückhaltung, wenn es um die Übernahme von Sanktionen geht. Er sagt: «Eine gewisse Halbherzigkeit kommt auch daher, dass man gegenüber der EU mitspielen möchte und nicht als Spielverderber oder als Profiteur da stehen will. Und auf der anderen Seite möchte man sich vielleicht auch mit den Russen nicht alles verderben.»
Das sei allerdings vergebene Liebesmühe: «Es gibt keine Punkte zu gewinnen bei den Russen. Wir sind einfach ein unfreundliches Land aus ihrer Perspektive.»
Bleibt das andere, das erste Nord-Stream-Unternehmen. Es unterliegt keinerlei Sanktionen. Es gehört, wie Nord Stream 2, mehrheitlich dem russischen Energieunternehmen Gazprom. Bei Nord Stream sind allerdings noch eine Reihe europäischer Energieunternehmen beteiligt.
Wie viele Angestellte noch bei Nord Stream arbeiten, ist nicht herauszufinden. Im Sommer 2022 waren es 75. Zu dieser Zeit hatte das Unternehmen SRF noch die Türen geöffnet, den Kontrollraum und eine Sitzung filmen lassen. Das war vor den Anschlägen.
Ein Besuch vor Ort zeigt: Es herrscht weiterhin Betrieb, Personal geht ein und aus. SRF spricht mehrere Menschen an, die das Gebäude verlassen. Sie wollen keine Auskunft geben, sagen, sie würden hier nicht arbeiten.
Website: «Sichere Energie für Europa»
Die letzte Meldung auf der Website datiert von November 2022. Auf der Website bezeichnet das Unternehmen die Pipelines noch immer als «sichere Energie für Europa». Wählt man die Nummer der Medienstelle, teilt ein Anrufbeantworter auf Englisch mit: «Wir erhalten zurzeit sehr viele Anrufe und E-Mails. Wir versuchen sie so schnell wie möglich zu beantworten.» Auch nach drei Monaten erhält SRF keine Antwort.
Ein kurzer Telefonkontakt mit einem russischen Mitglied des Managements ergibt Antworten wie «Wir haben immer etwas zu tun» oder «Bei uns hat sich nichts geändert». Für Nachfragen ist die Person nicht mehr erreichbar.
Verwaltungsrat beantwortet Fragen nicht
Bis zum heutigen Tag einziger Verwaltungsrat des Unternehmens ist der Zuger Anwalt Urs Hausheer. Er stellt ein Treffen in Aussicht. Als SRF zusagen will, sagt er es ab. Die Begründung: Man habe nichts zu berichten. Für Rückfragen ist er nicht zu sprechen.
Er teilt schliesslich per E-Mail mit: «Der Verwaltungsrat und das Management arbeiten zurzeit intensiv an der künftigen Ausrichtung/Struktur der Gesellschaft.» Und: «Wir werden nach aussen weiter kommunizieren, sobald dies aus unserer Sicht tunlich ist.»
Auch ein Besuch in seiner Kanzlei in Zug führt zu keinem Treffen. Urs Hausheer ist nicht zugegen. Er nimmt Notiz von diesem Besuch. Wie viele Personen noch bei Nord Stream arbeiten und womit sie sich befassen, beantwortet er auch im Nachhinein nicht.
Was vor Ort aber zu sehen ist: Der Briefkasten seiner Anwaltskanzlei beherbergt 32 weitere Firmennamen.
Putin führt Krieg mit Geld aus Zug.
Der ehemalige Grünen-Nationalrat und einstige Zuger Kantonsrat Josef Lang hat am Abend vor dem zweiten Jahrestag des Kriegsbeginns eine Mahnwache vor dem Nord-Stream-Gebäude mitorganisiert. Er sagt: «Nord Stream hat dazu beigetragen, dass Putin mit einer vollen Kriegskasse den Krieg starten konnte. Es wird Krieg geführt von Putin mit Geld, das aus Zug kommt.»
Hierzu schreibt Nord-Stream-Verwaltungsrat Urs Hausheer: «Unsere Gesellschaft hat über mehr als 10 Jahre einen wertvollen Beitrag zur Energieversorgung in Westeuropa geleistet. Sie hat sich zu keiner Zeit an politischen Debatten beteiligt und wird dies auch künftig nicht tun.»
Behörden verweigern Herausgabe von Dokumenten
SRF fragt bei der Volkswirtschaftsdirektion in Zug an, inwiefern seit den Sprengungen Kontakt zwischen den Regierungsräten und den Nord-Stream-Unternehmen bestünde. Die Volkswirtschaftsdirektion schreibt, alle Regierungsräte hätten auf die Frage geantwortet, «dass diese in der Zeit vom 26. September 2022 bis heute keine E-Mail-Kontakte hatten und keine Protokolle betreffend die beiden erwähnten Firmen vorliegen».
Zug hat allerdings ein Team für Wirtschaftspflege. Es hat die Aufgabe, im Kanton Zug ansässigen Unternehmen «gute Rahmenbedingungen zu erhalten oder zu schaffen». Dazu gibt es ein eigenes Wirtschaftspflegegesetz.
Bei Nord Stream war das Team letztmals im August 2017, bei Nord Stream 2 war es im Juni 2022. SRF würde gerne mögliche Protokolle dieser Treffen einsehen und stellt dafür ein Gesuch gestützt auf das Öffentlichkeitgesetz. Eine Einsicht verweigert die Direktion mit der Begründung: «Kein Unternehmen würde mehr mit den Behörden Kontakt haben wollen, womit die erfolgreich praktizierte Wirtschaftspflege hinfällig würde.»
Finanzdirektor verweist auf Bund
Volkswirtschaftsdirektorin Silvia Thalmann-Gut ist zu keinem Interview bereit. Hingegen empfängt Finanzdirektor Heinz Tännler SRF. Er sagt, es mache für ihn «formalistisch betrachtet überhaupt keinen Unterschied», dass die Unternehmen, deren Pipelines in der Ostsee von unbekannten Tätern gesprengt worden sind, in Zug ansässig seien. Er verweist auf die Wirtschaftsfreiheit: «Sie haben das gute Recht gehabt, seinerzeit sich hier zu domizilieren. Sie haben das sicher auch nach Gesetz und Recht getan.»
Wie viele der rund 400 in Zug domizilierten russischen Firmen sanktioniert sind, kann er nicht sagen: «Es ist nicht unsere Pflicht.» Er müsse den Meldeaufforderungen nachkommen, die ihm das Staatssekretariat für Wirtschaft schicke. «Das machen wir eins zu eins, und den Rest muss der Bund entscheiden.»
Parlament befasst sich mit Taskforce
Mitte April will das Parlament in einer Sondersession entscheiden, ob die Schweiz bei den Russland-Sanktionen mit den westlichen Industrienationen nicht doch an einer gemeinsamen Taskforce mitmachen sollte.
Derweil sind die Nord-Stream-Unternehmen trotz zerstörter Pipelines, teilweiser US-Sanktionen und Kritik immer noch aktiv.