Man könnte die Geschichte so erzählen: Zwei Erdgas-Pipelines, bekannt als Nord Stream 1, werden gewartet – wie jedes Jahr. Dafür gehen sie rund 10 Tage ausser Betrieb. Anschliessend fliesst das Gas weiter.
In Kriegszeiten klingt sie aber so: Der russische Präsident setzt die Erdgas-Verbindung zwischen Russland und Deutschland dazu ein, Europa unter Druck zu setzen und gesellschaftliche Verwerfungen zu erzeugen. Aus diesem Grund könnte er verfügen, dass der Gashahn nach der Wartung nicht mehr aufgedreht werden wird.
Putin bringt Nord Stream 2 wieder ins Spiel
Schon seit Juni liefert Russland nur noch weniger als die Hälfte der Gasmenge – mit der Begründung, dass eine reparierte Turbine von Siemens fehle.
Zudem brachte Wladimir Putin in der Nacht auf den 20. Juli Nord Stream 2 wieder ins Spiel; jene zwei neuen Pipelines, deren Zertifizierung aufgrund der russischen Aggression nicht erfolgt war.
Nord Stream war von Anfang an ein umstrittenes Projekt. Seine offizielle Geschichte beginnt am 8. September 2005. Die damaligen Regierungschefs von Deutschland und Russland, Gerhard Schröder und Wladimir Putin, schliessen ein Abkommen über eine direkte Erdgas-Verbindung zwischen beiden Ländern.
Angela Merkel, die nur wenige Wochen später zur neuen Bundeskanzlerin wird, treibt das Projekt mit Überzeugung weiter. Bei der Eröffnung 2011 im ostdeutschen Lubmin lobt sie es als «beispielhaft für die Kooperation zwischen Russland und der Europäischen Union».
Polen, die Ukraine und die baltischen Staaten haben von Anfang an Bedenken. Zudem entgehen ihnen Milliardensummen an Transitkosten. Zuvor war Erdgas über Leitungen geflossen, die durch diese Länder liefen.
Alle US-Präsidenten sind dagegen
Laute Gegner sind zudem die USA, und zwar sowohl unter Präsident Barack Obama als auch unter Donald Trump und Joe Biden. Sie sehen Nord Stream als Sicherheitsrisiko. Zudem haben sie eigenes Interesse, ihrerseits Gas nach Europa zu verkaufen.
Die Kritik wird deutlicher, als Deutschland und Russland die Verdopplung der Kapazitäten beschliessen: Zu den beiden Nord-Stream-Röhren sollen zwei Nord-Stream-2-Pipelines kommen, die grösstenteils parallel verlaufen.
Zwei Wochen vor Kriegsbeginn trifft sich US-Präsident Joe Biden mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz und sagt an der anschliessenden Pressekonferenz am 7. Februar 2022: «Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, dann wird es kein Nord Stream 2 geben. Wir werden dem ein Ende setzen.»
So kommt es: Deutschland verkündet nur zwei Tage vor Kriegsbeginn, dass eine Zertifizierung der Pipeline nicht erfolgen werde. Auf dem Meeresboden verbleiben zweieinhalbtausend Kilometer Pipelines, die bereits mit Gas gefüllt sind.
Das Unternehmen Nord Stream 2 ist zur Geisterfirma mutiert. Seine Büros in Zug sind leer, die Website ist abgeschaltet. Auf der Website von Gazprom, die 100-prozentige Eigentümerin ist, ist es weiterhin aufgeführt als abgeschlossenes Projekt. Die fehlende Inbetriebnahme ist nicht erwähnt.
Wir verhalten uns nach dem Drehbuch Russlands.
«Aus politischen Gründen war es absolut notwendig und auch überfällig, dass man Nord Stream 2 nicht in Betrieb nimmt», sagt Claudia Kemfert. Sie ist Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin.
Ihrer Meinung nach hätte man noch weitergehen müssen. «Bei Nord Stream 1 hätten wir es auch als richtig erachtet, ein Gas-Embargo zu machen – also nicht mehr über Nord Stream Gas zu beziehen, gar kein Gas mehr aus Russland zu beziehen.»
Dass das angesichts eines Gasanteils von 45 Prozent aus Russland für Deutschland schwierig wäre, ist ihr bewusst. Darauf habe Russland spekuliert. «Wir verhalten uns aktuell nach dem Drehbuch Russlands. Und wir müssen daraus Rückschlüsse ziehen. Diese können nur sein, dass wir möglichst schnell von russischem Gas unabhängig werden.»
Vielleicht wachen wir jetzt auf.
Russland als Beschleuniger der Energiewende in Europa – dieses Potenzial sieht man auch in der Schweiz. Anthony Patt vom Institut für Umweltentscheidungen der ETH Zürich sagt: «Klimaaktivisten haben seit Jahren gesagt, wir müssten so schnell wie möglich von der fossilen Energie kommen. Jetzt müssen wir es plötzlich tun, aber aus anderen Gründen. Wenn es einen Hoffnungsschimmer gibt, dann vielleicht: Wir wachen jetzt auf und merken, dass unser Energiesystem so rasch wie möglich umgebaut werden sollte.»
Die Schweiz ist weniger abhängig von russischem Gas. Aber auch hierzulande macht Erdgas 15 Prozent des Energiemixes aus. Viele Menschen heizen und kochen mit Gas. Für die Industrie ist Erdgas mit 26 Prozent noch deutlich wichtiger.
Das Gas wird fast komplett aus Deutschland importiert. Und dort stammt die Hälfte davon: aus Russland.
Ob die Wartung von Nord Stream nur der übliche jährliche Unterbruch ist oder ob sie ein neues Kapitel in Zeiten des Krieges schreiben wird – diese Frage wird sich am 21. Juli beantworten. Dann wären die Pipelines bereit für den Weiterbetrieb.