Für Ökonomie-Professor Marius Brülhart von der Uni Lausanne sind hohe Schulden kein Problem – erst recht nicht in Corona-Zeiten. Im Gegenteil: Die Finanzminister seien zurzeit gar zu zögerlich. «Die Zinsen sind – wenigstens für die westeuropäischen Länder und erst recht die Schweiz – negativ. Das heisst, Schulden kann man im Moment quasi umsonst haben. Das Virus grassiert, die Wirtschaft leidet. Da ist es am Staat, jetzt in die Bresche zu springen.»
Viele Staaten haben das schon getan. Die Schulden in Industriestaaten sind – gemessen an ihrer Wirtschaftskraft – so hoch wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. In Italien betragen sie inzwischen mehr als 160 Prozent der Wirtschaftsleistung, in Portugal 137 Prozent, in den USA mehr als 130 Prozent des Bruttoinlandprodukts BIP, Tendenz: steigend.
Geld verdienen beim Schuldenmachen
Schulden zu machen ist billig wie nie, die Zinsen sind tief oder sogar negativ. Länder wie die Schweiz verdienen also sogar noch Geld, wenn sie Schulden machen. Es sei daher für viele Länder kein Problem, noch mehr Schulden zu machen, wenn es nötig sei, so Brülhart: «Die Bruttoschuld ist eine Zahl, die nicht viel aussagt. Die entscheidende Zahl ist die Zinslast. Und die ist im Moment in den Industrieländern historisch tief.» Und sie dürfte noch auf lange Sicht tief bleiben, meint er.
Sogar eine Schuldenlast von über dem Doppelten des BIP ist offenbar in einer entwickelten Industrienation tragbar.
Darum müsse man angesichts steigender Schuldenstände nicht in Panik verfallen. Brülhart verweist auf das Beispiel Japan. Das Land hält seit Jahren den Schulden-Weltrekord: Aktuell steht der Staat mit 266 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in der Kreide. Das zeige: «Sogar eine Schuldenlast von über dem Doppelten des BIP ist offenbar in einer entwickelten Industrienation tragbar.»
Langfristige Folgen
Tragbar schon, sagt auch Martin Schulz, Chefökonom beim japanischen IT-Dienstleister Fujitsu. Das gelte insbesondere für Japan, wo die seit Anfang der 90er-Jahre wachsende Verschuldung im eigenen Land finanziert worden sei. «Staatliche Verschuldung ist als Fonds verkauft worden an die alternden Haushalte. Zurzeit übernimmt die Zentralbank diese Rolle und kauft im Wesentlichen die staatliche Verschuldung auf.» Und werde sie nicht einfach wieder verkaufen. Eine Finanzkrise sei damit sehr unwahrscheinlich.
Die Wachstumsmöglichkeiten werden langfristig eingeschränkt durch eine hohe staatliche Verschuldung.
Trotzdem seien hohe Schulden auf längere Zeit ein Problem, so Schulz. «Jede staatliche Verschuldung bedeutet, dass man Zukunftskonsum in die Gegenwart verlagert. Man nimmt Kredite auf, damit man heute konsumieren kann. Dieser Konsum steht für die Zukunft nicht zur Verfügung. Das bedeutet, dass die Wachstumsmöglichkeiten langfristig durch eine hohe staatliche Verschuldung eingeschränkt werden.»
Auch, wenn keine Finanzkrise in Sicht sei: Umsonst seien hohe Schulden nicht zu haben. Die Kosten trage die Bevölkerung. Die Jungen verdienten wegen des schwächeren Wachstums weniger und hätten auch weniger für den Konsum übrig, sagt Schulz.
Aber auch die Alten zahlten die Zeche, die in Japan die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. «Auf ihren Lebensersparnissen haben sie seit Jahrzehnten keinerlei Renditen gesehen. Das bedeutet, dass sie ihren Ruhestand sehr viel anders leben müssen, als es bei 6 Prozent Zinsen der Fall gewesen wäre.» Die Alten finanzierten also einen Grossteil der Staatsschulden – durch entgangene Zinsen und Einkommen. Dieses Schicksal könnte bald auch anderen, westlichen Ländern mit alternder Bevölkerung drohen. Auch der Schweiz.