«Finsternis senkt sich über das Land»: So titelte kürzlich die türkische Oppositionszeitung «Cumhuriyet». Das kommt nicht von ungefähr, denn in der Türkei geht ein freudloser Sommer zu Ende: Konzerte und Festivals wurden verboten, Schriftstellerinnen und Journalisten wurden eingesperrt, Musiker unterliegen der Zensur.
Jetzt ist auch der weltbekannte Geologe Celal Sengör in Ungnade gefallen, wegen missliebiger Aussagen in einer Wissenschaftssendung. Dabei ging es um die Ausgrabungen von Harran, einer antiken Stätte in der heutigen Südosttürkei, wo Stammvater Abraham einst gelebt haben soll.
Das «Märchen»
«Das ist ein Märchen. Es gibt keinen Beleg dafür, dass Abraham tatsächlich existiert hat», warf Sengör in die Runde. Und das gelte auch für andere Figuren aus den heiligen Schriften der drei Religionen, die der mesopotamischen Tradition entsprängen: Judentum, Christentum und Islam. Das Judentum etwa berufe sich auf Moses als Propheten, aber auch diesen Mann habe es historisch nicht gegeben.
Der Fernsehsender erhielt für diesen Zwischenruf in der zweistündigen Diskussionssendung unter Akademikern eine Abmahnung der Rundfunkaufsicht und eine Geldstrafe. Das staatliche Religionsamt sehe in der Bemerkung einen Verstoss gegen die türkische Theologie, wurde begründet. Sengör selbst wurde von der Staatsanwaltschaft vorgeladen – wegen öffentlicher Beleidigung religiöser Werte.
Der Witz von Gülsen
Solche Verfahren sind in der Türkei nicht mehr selten. Die bekannte Popsängerin Gülsen wurde kürzlich verhaftet, weil sie einen Witz über Religionsschulen gemacht hatte. Die Staatsanwaltschaft erhob jetzt Anklage und fordert bis zur drei Jahre Haft. Gegen die internationale Musikplattform Spotify ermittelt die Staatsanwaltschaft, weil sie religiös anstössige Titel vertreibe.
Die Türkei habe zwar keine Religionspolizei, kommentierte kürzlich ein türkischer Politikwissenschaftler, doch spielten ihre Staatsanwälte inzwischen eine ähnliche Rolle wie im Iran oder Saudi-Arabien.
Sengör wehrt sich – und erinnert an Galileo und Darwin
Professor Sengör erschien diese Woche zum Verhör im Justizpalast von Istanbul. Die Staatsanwaltschaft hatte ihm eine Frist von zehn Tagen gesetzt, sonst werde er von der Polizei abgeholt. In seiner Verteidigungsrede, die sein Anwalt an die Presse verteilte, wies der Geologe darauf hin, dass er wissenschaftlich bewiesen habe, dass die Legende von der Sintflut aus alt-mesopotamischen Erzählungen stamme.
Die Behörde stütze sich dagegen auf mittelalterliche Ansichten und mache sich lächerlich, so Sengör: «Die Rundfunkaufsicht und die Staatsanwaltschaft stemmen sich gegen die Wissenschaft, wenn sie eine wissenschaftliche Aussage bestrafen wollen. Sie sollten daran denken, wie die Kirche einst Galileo und Darwin verurteilte, und das Verfahren schleunigst einstellen, wenn sie nicht genauso in die Geschichte eingehen wollen.»
Wenn sich die Staatsanwaltschaft von dieser Mahnung nicht beeindrucken lässt und Anklage erhebt, droht dem Wissenschaftler für seine Anmerkung zur Religionsgeschichte eine Haftstrafe von einem Jahr.