«Mit tiefen Steuern schaffen wir Chancen und Arbeitsplätze für alle», rechnete die britische Premierministern Liz Truss vor. Sie bemühte damit eine Formel, die bei Liberalen beliebt ist: Wenn es den Reichen und den Unternehmen gut geht – dann geht es allen gut.
Nun hat Truss ihre umstrittenen Steuerpläne zurückgezogen. Der Spitzensteuersatz für Topverdiener von 45 Prozent wird doch nicht gestrichen.
Doch was ist dran am «Trickle down»-Effekt der Wirtschaftstheorie: Tröpfelt der Wohlstand tatsächlich von Wohlhabenden zur Mittelschicht und schliesslich zu den Ärmeren herunter?
«Die einfache Losung – Reiche entlasten, Ärmere stärken – die gibt es nur im Paradies», erklärt der Schweizer Ökonom Christoph Schaltegger. «In einer gesellschaftlichen Realität ist es komplizierter.»
«Trickle down» war eine Art Mantra der Präsidentschaft von Ronald Reagan in den USA der 1980er-Jahre. Dort stellten sich laut dem Professor für politische Ökonomie keine paradiesischen Zustände ein: «Die Ungleichheit und die Polarisierung haben damals stark zugenommen.»
Einen Automatismus hin zum Wohlstand für alle gibt es also nicht. Die politische Linke spricht gar von einem Märchen: Steuersenkungen für Wohlhabende können nie im Interesse der Allgemeinheit sein.
Auch hier interveniert Schaltegger: «Die Position, dass die Steuerschraube nichts mit dem Wohlstand der breiten Masse zu tun hat, ist ebenfalls nicht korrekt. Dann müssten Kantone und Länder mit hohen Steuern besonders ausgeprägte Mittelstandsgesellschaften mit tiefer Spreizung des Einkommens sein.» Und eben dies sei nicht zu erkennen.
Die Steuerpolitik kann, wenn sie in die Wirtschaftspolitik insgesamt eingebettet ist, einen enormen Effekt haben.
Eine berühmte Studie zu den OECD-Ländern verbannt den «Trickle down»-Effekt zwar nicht ins Märchenland. Sie kommt aber zum Schluss, dass solche Steuersenkungen in den untersuchten Ländern kein Wirtschaftswachstum gebracht hätten.
Steuern runter, Wachstum rauf: So eindimensional sei die Welt nicht, sagt Schaltegger. «Doch die Steuerpolitik kann, wenn sie in die Wirtschaftspolitik insgesamt eingebettet ist, einen enormen Effekt haben.»
Obwalden wird zum Geberkanton
Als Beispiel nennt der liberale Ökonom Obwalden. Zu Beginn der 2000er-Jahre gehörte der Kanton zu den finanzschwächsten in der Schweiz. Dann setzte er auf eine attraktive Steuerbelastung auf Unternehmens- wie auch auf Einkommensseite, wie sie auch das Paradebeispiel Zug pflegt.
In fünfzehn Jahren entwickelte sich Obwalden zu einem Geberkanton im nationalen Finanzausgleich. «Er ist nicht nur an der Spitze ein reicher Kanton geworden, sondern insgesamt haben sich die Einkommenspositionen stark verbessert», so der Professor an der Universität Luzern.
Eine Frage des Timings
Die tiefen Steuern lockten vermögende Neuzuzügler an. «Gleichzeitig wurde die Verkehrsanbindung zu den Zentren, wo Arbeitsplätze sind, verbessert. Das alles hat dazu geführt, dass das Medianeinkommen gestiegen ist.»
«Der Kanton Obwalden ist ein Beispiel dafür, bei dem sich die Gesellschaft im Konvoi bewegt: Wenn es den oberen Einkommen etwas besser geht, geht es auch den anderen etwas besser.»
Allgemein müssten Steuersenkungen aber nachhaltig finanziert werden, um Wachstum zu generieren. «Wenn sie nur über Verschuldung finanziert werden, kann dies langfristig nicht aufgehen», schliesst der Ökonom. «Zudem muss das Timing stimmen.»