Mehr Lohn, mehr Rente und endlich Gleichstellung: Das fordern die Gewerkschaften lautstark. Ihr Problem: Die Mitgliederzahl schwindet seit Jahren, die Lohnschere öffnet sich weiter und die Teuerung hat die Reallöhne im letzten Jahr um 1.9 Prozent schrumpfen lassen. Wie können die Gewerkschaften ihre Forderungen durchsetzen? Wie gross ist ihr politischer Einfluss noch? Und was läuft im Ausland anders? Antworten vom Präsidenten des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Pierre-Yves Maillard.
SRF News: Heute ist der Erste Mai – bringt der den Beschäftigten in der Schweiz überhaupt noch etwas?
Pierre-Yves Maillard: Absolut, der 1. Mai ist der 1. August der Arbeitswelt. Es gibt nicht viele Feiertage, an denen Menschen zusammenkommen, um über das Thema Arbeit zu diskutieren – und das weltweit. Der 1. Mai hat auch einen Integrationscharakter. Gewerkschaften sind wichtig, denn Arbeitnehmende können nicht alleine für ihre Arbeitsbedingungen kämpfen, dafür braucht es uns. Auch das macht den Tag so besonders.
Wir haben seit zwei Jahren einen Reallohnverlust. Haben die Gewerkschaften versagt?
Das waren aussergewöhnliche Jahre, vor allem das vergangene. Die Lohnverhandlungen sind immer im Herbst. Niemand konnte dann vorhersehen, dass es zum Ukrainekrieg kommen wird. Dieser hat zu einer brutalen Inflation geführt. Wir haben letztes Jahr in verschiedenen Sektoren erfolgreich für höhere Löhne gekämpft, beispielsweise im Bausektor. Die Inflation konnten wir – nicht überall, aber vielerorts fast vollständig kompensieren. Wir fordern immer die volle Kompensation der Inflation, leider machen die Arbeitgeber nicht mit. Das war früher anders.
Der scheidende Arbeitgeberpräsident wirft Ihnen dogmatische Beton-Mentalität vor. Was bedeutet der Konflikt zwischen den Gewerkschaften und dem Arbeitgeberverband für die Sozialpartnerschaft?
Das ist nicht so. Es war der Arbeitgeberverband, der sich im Parlament (BVG-Reform, Anmerkung der Redaktion) nicht an den ausgehandelten Kompromiss gehalten hat. Es ist für die Sozialpartnerschaft wirklich sehr wichtig, dass man zum gemeinsamen Verhandlungsergebnis steht.
Was wirklich sehr wichtig ist, dass man zum Verhandlungsergebnis steht. Das ist zentral für die Sozialpartnerschaft.
Ich hoffe, dass der neue Arbeitgeberpräsident das ernst nimmt. Wissen Sie, ich verteidige die Interessen der Arbeitnehmenden in der Schweiz, das ist meine Rolle. Ich war Regierungsrat, ich weiss, was verhandeln bedeutet. Man muss bei Verhandlungen darauf vertrauen können, dass die andere Seite ihr Wort hält.
Es gibt immer mehr Arbeitnehmende in der Schweiz und trotzdem immer weniger Mitglieder, schmerzt Sie das nicht?
Natürlich ist das nicht gut. Neue Zahlen zeigen aber, dass es wieder aufwärts geht. Dennoch: Unser Einfluss hat nicht unbedingt abgenommen. Die Hälfte der Arbeitnehmenden in der Schweiz profitieren von unseren Verhandlungen, insbesondere, was die Gesamtarbeitsverträge betrifft. Das ist viel mehr, als es noch vor 20 Jahren der Fall war.
Wir sind nach wie vor eine der grössten Basisorganisationen der Schweiz.
Wir erfahren auch zunehmend Unterstützung aus der Bevölkerung bei unseren Initiativen, wenn es ums Unterschriftensammeln geht. Wir sind nach wie vor eine der grössten Basisorganisationen der Schweiz. Mitgliederschwund sehen sie im Übrigen auch bei den Parteien oder bei den Religionen. Aber es ist klar, wir brauchen mehr Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter.
Das Gespräch führte Reto Lipp.