Es ist in diesen Tagen nicht einfach, positive Stimmen in Deutschland, Frankreich und Italien zu finden. SRF hat in den drei grössten Volkswirtschaften der EU auf der Strasse gefragt, was derzeit wirtschaftlich gut laufe. Die Antworten: «Da fällt mir nichts ein.» – «Ich dachte, wir starten mit einer einfachen Frage.» – oder schlicht ein ratloses Lachen.
Es ist keine gute Ausgangslage für die gewichtige politische Wahl, die vor der Tür steht. Vom 6. bis 9. Juni wählen die EU-Bürgerinnen und Bürger ein neues europäisches Parlament. Nationalistische Kräfte können mit Zuspruch rechnen.
Der Vertrauensindikator der drei Länder bewegt sich unter null. Das heisst: Die Menschen schätzen ihre persönliche finanzielle und die gesamtwirtschaftliche Situation als negativ ein. Auch die grossen Länder der EU, von denen insbesondere Deutschland und Frankreich als wirtschaftliche Motoren galten, laufen derzeit nicht rund.
Hohe Inflationsraten und Energiepreise infolge des russischen Angriffskriegs haben die Industrien belastet. Zudem hat jedes der drei grossen EU-Länder hausgemachte Probleme. Nicht wenige Menschen spüren das inzwischen deutlich im Portemonnaie.
Deutschland hat Zukunftsangst
Das einstige «Wirtschaftswunder» Deutschland wächst nicht mehr. Im vergangenen Jahr befand sich das Land gar in einer Rezession. Im ersten Quartal dieses Jahres konnte ein kleines Wachstum verzeichnet werden: 0.3 Prozent.
Einer der Gründe: Die für Deutschland bedeutende Autoindustrie – ihre Unternehmen erwirtschaften laut Angaben des Wirtschafts- und Klimaschutzministeriums einen Umsatz von gut 564 Milliarden Euro und beschäftigten direkt knapp 780'000 Personen – hat Probleme mit der Konkurrenz. Sie schafft die Wende zu elektrischen Antrieben und technologischer Neuerung nicht schnell genug, um globale Vorreiterin zu bleiben. Fahrzeugbauer aus Asien setzen Volkswagen, aber auch Hochsegment-Anbieter wie Mercedes oder Porsche unter Druck.
Wie wirkt sich der Stillstand des Wirtschaftswachstums auf die Stimmung aus? SRF fragt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Er beobachtet, dass grosse Teile der Bevölkerung nicht mehr mitziehen: «Wir wissen, dass 85 Prozent der Deutschen die Zukunft schlechter als heute sehen. Sie glauben, dass es künftigen Generationen nicht mehr so gut gehen wird. Das ist ein Bruch des Gesellschaftsvertrags.»
Diese «fehlende soziale Akzeptanz für die Veränderung, die unausweichlich auf Deutschland zukommen werden» ist seiner Ansicht nach die grösste wirtschaftliche und politische Herausforderung. Für Fratzscher ist klar, dass Technologie und Klimawandel alle Lebensbereiche umwälzen werden: von der Mobilität, über die Arbeitsplätze bis zu Ernährung.
Frankreich verliert den Zusammenhalt
Der Ökonom, den SRF in Frankreich befragt, sieht sehr ähnliche Probleme, mit denen sich sein Land auseinandersetzen muss. Henri Sterdyniak ist Professor am Konjunkturinstitut OFCE (Observations et diagnostics économiques). Er sagt: «Wir haben drei grosse Probleme. Erstens müssen wir unsere Wirtschaft reindustrialisieren. Zweitens müssen wir, wie alle Länder der Welt, den ökologischen Wandel einleiten. Und drittens haben wir bereits eine extrem hohe Steuerquote und müssen dennoch viele öffentliche Ausgaben tätigen.»
Die Stimmung in der Bevölkerung sei derzeit nicht gut: «Die Menschen sind ziemlich betrübt. Es gibt wenig Zusammenhalt. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass Frankreich seit einigen Jahren seltsamerweise unter einem starken Rückgang der Geburtenrate leidet, obwohl wir früher das Land mit der höchsten Geburtenrate waren.»
Mit 1.7 Kindern pro Frau ist die Geburtenrate auf den niedrigsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg gesunken. Zwar ist der Wert im europäischen Vergleich eher hoch, aber für Frankreich ist das ein Alarmzeichen.
Ein weiterer Grund für Alarm: der Baguette-Preis. Bei der SRF-Umfrage auf einem Pariser Markt sagt eine ältere Frau: «Alles wird immer teurer, das Baguette kostet schon 1.10 Euro.» Das französische Brot war immer unter einem Euro zu haben. Dieser Preis ist ein Zeichen der Inflation, die Frankreich fest im Griff hat. In den vergangenen zwei Jahren betrug sie um die fünf Prozent.
Die gesunkene Kaufkraft beschäftigt fast jede Person, die SRF befragt. Rentner Youssef Heny verkauft auf dem Markt an der Porte Dorée Kleider. Aber er hat fast keine Kundschaft. Er sagt: «Das Leben ist nicht einfach. Es ist sehr schwierig im Moment.»
Und Sayari Nouha, die arbeitslos ist, berichtet: «Wir müssen jeden Tag rechnen. Die Mieten und alles andere wird immer teurer. Wir reduzieren die Ausgaben immer weiter, damit wir durchkommen.» Sie müsse in verschiedene Läden gehen und kurz vor Schluss auf den Markt, um die Produkte so günstig wie möglich zu bekommen.
Laut Ökonom Sterdyniak hat die französische Regierung eine Reihe von hilfreichen Massnahmen ergriffen. Doch die Menschen fühlten sich nicht angesprochen. Wer Tag für Tag damit beschäftigt ist, über die Runden zu kommen, zeigt wohl wenig Offenheit für politische Visionen.
Italien verarmt
Auch in Italien dominiert die Sorge ums Geld. Gaetano Laudadio, Angestellter im Dienstleistungsbereich, sagt während der Umfrage in Mailand: «Ich muss inzwischen eine Liste machen und im Kalender Tage eintragen, an denen ich nichts ausgeben kann, sowie Tage, an denen ich mir vielleicht etwas leisten kann.»
Studentin Gaia Inserra hat eine klare Meinung: «Sagen wir mal so, wenn man keine gut bezahlte Stelle beim Staat findet, kann man ehrlich gesagt nicht leben.»
Diese Wahrnehmungen hätten einen wahren Kern, sagt Ökonom Angelo Baglioni von der Katholischen Universität Mailand. «Das Land leidet unter einer Verarmung, weil wir zwei Jahre lang eine ziemlich hohe Inflation hatten. Die Nominallöhne haben sich nicht angepasst, sodass es zu einer Verringerung der Kaufkraft gekommen ist. Die Menschen fühlen sich also ärmer als noch vor zwei, drei Jahren, und das führt zu Unzufriedenheit.»
Tatsächlich gelten laut den neusten Zahlen des italienischen Statistikinstituts Istat 9.8 Prozent der Bevölkerung als arm.
Die Defizite in Verwaltung und Justiz sowie ein kompliziertes Steuersystem machen das Leben nicht einfacher.
Auch zuversichtliche Stimmen gibt es
Trotz aller Sorgen und Unzufriedenheit gibt es aber auch Stimmen, die das Beste aus ihrer Situation machen wollen. In Mailand sagt Marco, der als Model arbeitet: «In meinem Fall spornt mich die schlechte italienische Wirtschaft an, immer besser zu werden und meine Interessen zu entwickeln.»
In Berlin findet Dragqueen Lilith Edelweiss: «Jeder, der einen Traum hat, kann ihn auch verwirklichen, wenn er selber etwas hineinsteckt.»
Die zuversichtlichen Stimmen sind selten geworden. Aber es gibt sie.