Die New Yorker Börse kennen die meisten Menschen nur von TV-Schaltungen zu Wirtschaftskorrespondenten. Im Hintergrund wuseln Makler über das Parkett, vor Monitoren mit endlosen Zahlenreihen stehen Männer in Nadelstreifenanzügen und verschieben gewaltige Geldbeträge, als würden sie Monopoly spielen.
So zumindest das Klischee, das zusätzlich von Filmen wie «The Wolf of Wall Street» befeuert wird, in dem Leonardo DiCaprio einen von Gier und Ehrgeiz zerfressenen Aktienhändler mimt.
Doch was passiert wirklich im Herzen der weltweiten Finanzindustrie? Einer, der es wissen muss, ist Jens Korte: Seit einem Vierteljahrhundert berichtet der gelernte Industriekaufmann und Volkswirt von der New York Stock Exchange. In einfachen Worten erklärt er dem Publikum die nicht ganz so einfachen Vorgänge an der NYSE.
Ruhig wird es kaum einmal an der Wall Street. In diesen Tagen dominiert der Leitzinsentscheid der US-Zentralbank FED die Schlagzeilen. Dieser kann traditionell zu seismografischen Erschütterungen an der Börse führen.
Acht reguläre Notenbanksitzungen gibt es jährlich. Das Ergebnis der finanzpolitischen Weichenstellung trifft verlässlich um 14 Uhr New Yorker Zeit ein.
Nervöse Anspannung, die sich wahlweise in allgemeiner Erleichterung, lässigem Nicken oder kollektivem Schrecken auflöst: Das immer gleiche Schauspiel biete durchaus witzige Momente, erzählt der Korrespondent. «Aber nur, wenn etwas wirklich Überraschendes passiert, rennt der ein oder andere mal von einem Handelsstand zum nächsten. Dann herrscht aber schnell wieder ‹Business as usual›.»
Vorbei mit der Trader-Romantik
Dieser Normalbetrieb hat sich jedoch seit der Jahrtausendwende deutlich verändert – auch beim Dresscode. Die Banker von J.P. Morgan oder Goldman Sachs dürfen etwa seit einigen Jahren auch mit Poloshirt und kurzer Hose zur Arbeit kommen.
Optisch fällt auch etwas anderes auf: Mit dem Dichtestress früherer Zeiten ist es an der New Yorker Börse vorbei. Als Korte Ende der 90er-Jahre anfing, von der Wall Street berichten, tummelten sich dort noch über 7000 Händlerinnen und Händler.
«Wir Journalisten waren damals nicht besonders gerne gesehen, weil wir nur im Weg herumgestanden sind. Mittlerweile gibt es weit weniger Händler. Das ganze System hat sich stark verändert.» Allem voran hat die Digitalisierung dazu geführt, dass es heute weniger marktschreierisch zugeht.
Allerdings: Im «Hochfrequenz-Handel» sei es wichtig, möglichst nahe am Zentralserver zu sein, damit Geschäfte in Millisekunden abgeschlossen werden können, erläutert Korte. «Mit komplexen Algorithmen programmierte Bots treffen selbstständig Kauf- und Verkaufsentscheidungen und versuchen, von nur ganz kurz bestehenden Preisunterschieden zu profitieren.» Hier kann jeder zusätzliche Meter Glasfaser Geld kosten.
Dass an der Wall Street aber trotz Homeoffice und Digitalisierung immer noch Betriebsamkeit herrscht, hat laut Korte viel mit Tradition und Prestige zu tun. Die Geldinstitute wollen im globalen Finanztempel Präsenz markieren. Und: «Wenn es Turbulenzen und Börsengänge an den Märkten gibt, kann es durchaus Sinn machen, jemanden vor Ort zu haben.»
Letztlich spiele der Faktor Mensch an der Wall Street zwar immer noch eine gewisse Rolle, schliesst Korte. «Aber der reine Handel läuft mittlerweile wohl zu 90 Prozent über Bots. Der physisch anwesende Händler ist nicht mehr so wichtig.»