Jedes siebte Kind wird hierzulande mindestens einmal im Leben Opfer von sexualisierter Gewalt, schreibt die Stiftung Kinderschutz Schweiz auf ihrer Webseite. Mädchen sind doppelt so oft betroffen wie Knaben.
«Diese Statistiken gibt es schon lange, trotzdem hinkt die Präventionsarbeit hinterher», sagt Agota Lavoyer, die sich als Beraterin mit hunderten Fällen sexuellen Missbrauchs beschäftigt hat.
Missbrauch in der Kindheit hinterlässt bei den Opfern tiefe Spuren. «Das sind lebensbestimmende, traumatisierende Erlebnisse», sagt die Expertin. «Wir lassen die Kinder im Stich, wenn wir uns nicht um das Thema kümmern.»
Anhand der Beispiele von Muriel, Selina und Chiara (Namen geändert), die allesamt als Kinder von Familienmitgliedern missbraucht wurden, erklärt Agota Lavoyer, wie systematisch Täter bei ihren Übergriffen vorgehen - und wie schwierig die Aufarbeitung ist.
«Das ist fast wie in den ‹Sexheftli›»
Selina wurde als Kind von ihrem Onkel missbraucht, wenn ihr Gotti nicht im Haus war. «Es hatte ‹Sexheftli› auf dem Nachttisch im Schlafzimmer», erzählt sie. «Dann kam mein Onkel ins Zimmer und schaute die Magazine mit mir an.» Ob sie es schön finde, wollte er wissen. Selina, damals in der ersten Klasse, hat sich erst nicht viel dabei gedacht.
Später fing der Onkel damit an, dem Mädchen sein Geschlechtsteil zu zeigen. Das sei fast, wie in den «Sexheftli», habe er gesagt. «Dann hat er sich befriedigt und mir gesagt, ich solle sein Glied anfassen. So hat es angefangen.»
Dieses Vorgehen sei typisch, sagt Opferberaterin Agota Lavoyer. «Tatpersonen gehen oft strategisch und sehr manipulativ vor und testen erst, wie weit sie gehen können, ohne dass das Kind sie verrät.» Mit der Zeit werden die Übergriffe schwerwiegender.
Das «Geheimnis» für sich behalten
Im Herzen wusste Selina, dass die jahrelangen Handlungen des Onkels nicht richtig waren. Handkehrum hatte sie grosses Vertrauen in ihr Gotti und deren Mann, die ja auf sie aufpassten. «Ich konnte es niemandem erzählen. Ich meine, wer glaubt denn sowas?»
Selina hatte Angst vor der Reaktion ihres Gottis. Zudem wollte sie das «Geheimnis» zwischen ihr und dem Onkel nicht verraten. Das mache man nicht, so ihre damalige Überzeugung als Drittklässlerin. «Betroffene geraten in einen Loyalitätskonflikt», sagt Agota Lavoyer. «Sie fürchten sich davor, abgewiesen zu werden, dass etwas Schlimmes passieren oder die Familie auseinanderbrechen könnte.»
Selina hat ihre Geschichte jahrelang für sich behalten. Die Aufarbeitung der Ereignisse erfolgte erst im Erwachsenenalter.
«Es braucht viel mehr Präventionsarbeit»
Dass ihr Kind unter sexualisierter Gewalt leidet, ist für Eltern oft nicht einfach zu erkennen. Typische Symptome oder Verhaltensweisen gibt es nicht. Wichtig sei, wachsam zu sein. «Wenn sich ein Kind plötzlich verändert, sich anders verhält oder überfordert ist, dann sollte man dem nachgehen», rät Agota Lavoyer.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der man lieber wegschaut.
Mit anderen Worten: Sexualisierte Gewalt sollte stärker thematisiert werden – nicht nur in der Familie. «Es braucht generell mehr Aufklärung, mehr Prävention.»
Agota Lavoyers aktuelles Buch «Jede_ Frau» befasst sich mit dem gesellschaftlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt. «Wir leben in einer Gesellschaft, in der man lieber wegschaut», sagt sie. Das Thema dürfe nicht weiter verharmlost werden.