Lida Nachreiner war bis letzten Sommer bei Migros Online in Pratteln beschäftigt. Im Lager stellte sie online bestellte Lebensmittel in Boxen zusammen. Sie musste riesige Distanzen zurücklegen, um die Produkte zusammenzusuchen: Anfang 2024 waren es im Schnitt über 25'000 Schritte täglich, fast 19 Kilometer.
Dann musste sie die bis zu 30 Kilogramm schweren Boxen aufs Förderband heben. Rund 15 Mal pro Stunde sagt Lida Nachreiner. Sie ist 43 und darf laut Arbeitsgesetz maximal 13 Kilogramm heben und das auch nur gelegentlich.
«Diese Arbeit macht krank»
Nach anderthalb Jahren wurde Lida Nachreiner krank. Diagnose: Schleimbeutelentzündung und Gelenkschmerzen. Noch schlimmer war die Situation im Warenausgang, wo Männer die bis zu 30 Kilogramm schweren Boxen auch über die Schulter heben und stapeln mussten. Für Klaus Stadtmüller, Co-Leiter der Gesellschaft für Arbeitsmedizin ist klar: «Diese Arbeit macht krank».
Migros Online schreibt Kassensturz: «Wir nehmen die Gesundheit und das Wohlbefinden unserer Mitarbeitenden sehr ernst und sind uns unserer Verantwortung bewusst».
«Verletzte Fürsorgepflicht»
Nachdem Lida Nachreiner über vier Monate lang krankgeschrieben war, erhielt sie die Kündigung von Migros Online. «Krank machen und dann kündigen», sagt Roman Künzler von der Gewerkschaft Unia. Man habe Kenntnis von einem Dutzend Angestellten, die wegen dem Heben von zu schweren Gewichten krankgeschrieben und nach Ablauf der gesetzlichen Sperrfrist entlassen wurden.
Kurt Pärli, Professor für soziales Privatrecht sagt, solche Kündigungen seien missbräuchlich: «Das ist eine Verletzung der Fürsorgepflicht.» Migros Online schreibt «Kassensturz»: «Kündigungen erfolgen nie leichtfertig und basieren auf einer Vielzahl von betrieblichen Notwendigkeiten und individuellen Umständen». Man halte die gesetzlichen Rahmenbedingungen und Sperrfristen immer ein.
Drohbrief von Migros Online
Nach ihrer Kündigung im Sommer 2024 tauscht sich Lida Nachreiner mit anderen Angestellten aus und informiert das Arbeitsinspektorat Baselland und die Suva. Als Reaktion schickt Migros Online ihr einen Brief: Sie solle rufschädigende Äusserungen unterlassen, sonst behalte man sich rechtliche Schritte vor.
Mängelliste des Arbeitsinspektorats
Letzten Herbst kontrolliert ein Arbeitsinspektor von Baselland das Verteilzentrum in Pratteln und stellt mehrere Mängel fest: Im Fokus steht das Heben von zu schweren Gewichten über die Schulter. Angestellte sagen, seither habe Migros Online sie angewiesen, schwere Gewichte zu zweit zu heben. Laut Migros Online evaluiere man weitere Verbesserungen wie Schulungen zur sicheren Handhabung von Lasten.
Krank zur Arbeit, um Bonus nicht zu verlieren
Der Mindestlohn bei Migros Online ist 4270 Franken brutto. Ein Anreiz fürs rasche Arbeiten ist der Bonus: Er hängt von der Leistung aller Teams ab. Wer krank wird, wird bestraft: Am ersten Tag verliert er 20 Prozent des Bonus, an jedem weiteren 10 Prozent.
Eine Angestellte: «Viele kommen krank zur Arbeit, weil sie auch nach Jahren im Betrieb den Mindestlohn verdienen und auf den Bonus angewiesen sind.» Kurt Pärli, Professor für soziales Privatrecht, ist konsterniert: «Das Vermischen von Bonus und Sanktionen ist juristisch unmöglich». Migros Online schreibt: Man nehme die Bedenken der Angestellten sehr ernst und überarbeite das Bonussystem zugunsten eines Fixlohnes.