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Nobelpreis für Physik 2024 So haben Maschinen das Denken gelernt

  • Der Physik-Nobelpreis 2024 wird für die Entdeckung und Erfindung der Grundlagen für künstliche Intelligenz vergeben.
  • Der Preis wird an den US-amerikanischen Physiker John J. Hopfield und den britischen Informatiker und Kognitionspsychologen Geoffrey E. Hinton verliehen. Beide Forscher vereinten Physik mit Erkenntnissen über unser Gehirn.
  • Heute ist maschinelles Lernen allgegenwärtig und bringt viele Vorteile. Hinton warnt aber vor den Gefahren.

Spätestens seit der künstlich intelligente Chatbot ChatGPT-3.5 vor zwei Jahren vorgestellt wurde, ist künstliche Intelligenz in unserem Alltag angekommen. Die technischen Grundlagen für künstliche Intelligenz, wie wir sie heute kennen, gibt es schon seit Jahrzehnten.

Der diesjährige Physik-Nobelpreis geht an jene zwei Forscher, die diese Grundsteine gelegt haben. Inspiriert wurden sie vom menschlichen Gehirn.

Physik und Neurowissenschaften vereint

Einer der beiden neuen Nobelpreisträger ist John J. Hopfield. Eigentlich ist er Physiker. Als er an einer Neurowissenschaftskonferenz lernt, wie das menschliche Gehirn funktioniert, ist er fasziniert.

Quelle: Johan Jarnestad/The Royal Swedish Academy of Sciences / SRF, 08.10.24 1 0 1 Neuronale Netzwerke Neuronen Knoten Synapse stärker schwächer stärker schwächer Natürlich Künstlich Im GehirnWenn wir etwas lernen, wird die Verbindung zwischen Neuronen stärker. Vergessen wir etwas, wird sie geschwächt. Im ComputerHier werden die Neuronen mit Knoten nachgebildet. Sind beim Lernen zwei Knoten gleichzeitig aktiv, wird deren Verbindung gestärkt. Ansonsten geschwächt.

1982 vereint er Neurowissenschaften und Physik in einer wissenschaftlichen Publikation. Inspiriert davon, wie die Nervenzellen in unserem Gehirn Informationen austauschen, publiziert Hopfield ein physikalisches Modell für ein «assoziatives Gedächtnis».

Sein Modell ist heute bekannt unter dem Namen «Hopfield-Netzwerk». Es kann Muster speichern und diese Muster Stück für Stück nachbilden.

Geoffrey Hinton entwickelt das Hopfield-Netzwerk weiter

Es ist wenig erstaunlich, dass ein Neuropsychologe die Forschung an künstlicher Intelligenz weitertreibt. Der Brite Geoffrey E. Hinton hat experimentelle Psychologie und künstliche Intelligenz studiert und fragte sich, ob man Maschinen beibringen kann, Informationen zu lernen und zu verarbeiten, wie wir Menschen das tun.

Er entwickelt das Netzwerk von Hopfield weiter. 1985 publiziert Hinton ein neues Modell: Die Boltzmann-Maschine. Sie ist ein komplexeres neuronales Netzwerk.

Angelina Jolie und ihre Tochter schauen in die Kamera.
Legende: Das Gesicht von Angelina Jolie hat sich über die Zeit in unserem Gehirn eingebrannt. Sehen wir ein Bild ihrer Tochter Shiloh, erkennen wir anhand der Ähnlichkeit, dass die beiden verwandt sind. So ähnlich kann auch künstliche Intelligenz funktionieren: Sie prägt sich Muster ein und erkennt diese wieder. IMAGO/ZUMA Press Wire

Die Boltzmann-Maschine lernt aus Beispielen. Je häufiger sie ein bestimmtes Muster sieht, desto stärker speichert sie es ab. Nach dem Training kann sie bekannte Muster in Informationen erkennen, die sie zuvor noch nicht gesehen hat.

Die Machine Learning-Revolution folgt später

In ihrer ursprünglichen Form ist die Boltzmann-Maschine ineffizient. Sie benötigt lange, um Lösungen zu finden. Viele Forschende verlieren in den 1990er-Jahren das Interesse an künstlicher Intelligenz.

Neuronale Netzwerke heute: Eine Übersicht

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Etwa 30 Jahre nachdem Hopfield und Hinton die Grundsteine für die neuronalen Netzwerke legen, beginnt eine Art Revolution des maschinellen Lernens. Es gibt immer stärkere Rechner und immer mehr Daten, mit denen die künstlichen neuronalen Netzwerke trainiert werden können.

Heutige künstliche neuronale Netzwerke sind riesig und vielschichtig aufgebaut. Ein Beispiel: Sprachmodelle von heute können mehr als eine Billion (eine Million Millionen) Parameter enthalten. Man spricht von «tiefen neuronalen Netzwerken», die mit «Deep Learning» trainiert werden.

Anwendungen haben schon lange in unserem Alltag Platz gefunden. Hier eine nicht vollständige Liste der Entwicklungen im Bereich maschinelles Lernen seit den 2000er-Jahren, erstellt mit Hilfe von ChatGPT.

  • 2000er-Jahre: frühe Anwendungen von maschinellem Lernen liefern gute Ergebnisse bei E-Mail Spam-Filterung.
  • 2010: Der Aufstieg von Deep Learning findet Anwendung in verschiedenen Spracherkennungssystemen wie «Siri» und «Google Assistant» oder Übersetzungsdiensten wie «GoogleTranslate».
  • 2015 bis 2020: Maschinelles Lernen reift und wächst exponentiell. Ein Programm gewinnt 2016 gegen den weltbesten Go-Spieler. Modelle können neue Daten erzeugen. Also künstliche Bilder, Videos und Deepfakes generieren. Sprachmodelle ermöglichen maschinelle Übersetzungen und Chatbots.
  • Seit 2020: Verschiedenste Deep Learning Modelle finden immer breitere Anwendungen. Von neuen Möglichkeiten bei der automatisierten Texterstellung (ChatGPT3 wird Mainstream) über autonome Fahrzeuge, Analyse von medizinischen Bilddaten zur Diagnose bis zur Vorhersage von Proteinstrukturen.

Hinton bleibt dran. Über die Jahre werden die neuronalen Netzwerke immer komplexer. Und sichtbarer: Künstlich intelligente Tools wie ChatGPT und Midjourney fussen auf der Arbeit von Hinton und Hopfield.

Hinton warnt vor seiner eigenen Entdeckung

Während der Bekanntgabe gibt Hinton eine Einschätzung dazu ab, wie gross der Einfluss von neuronalen Netzwerken und maschinellem Lernen in Zukunft sein wird.

Ich glaube, diese Technologie wird einen enormen Einfluss haben, vergleichbar mit der industriellen Revolution. Aber anstatt die Menschen an physischer Kraft zu übertreffen, wird sie die Menschen an intellektuellen Fähigkeiten übertreffen.
Autor: Geoffrey E. Hinton Physik-Nobelpreisträger 2024

Gleichzeitig warnt Hinton vor den Gefahren seiner Technologie. «Wir müssen uns auch über eine Reihe möglicher negativer Folgen Gedanken machen. Insbesondere über die Gefahr, dass diese Dinge ausser Kontrolle geraten».

Hinton kritisiert sein eigenes Lebenswerk

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Hinton ist heute einer der lautesten Kritiker, wenn es um die Abkömmlinge seiner eigenen Technologie geht.

Er warnt in wissenschaftlichen Publikationen vor den Gefahren, die von künstlicher Intelligenz ausgehen. Und sagt in Interviews, dass ein Teil von ihm sein Lebenswerk bereut.

Auch während der Nobelpreis-Vergabe war das Thema. Hinton drückt es so aus: «Unter denselben Umständen würde ich es wieder tun. Aber ich mache mir Sorgen, dass die Gesamtkonsequenz Systeme sein werden, die intelligenter sind als wir Menschen. Systeme, die schlussendlich die Kontrolle übernehmen werden.»

SRF 4 News, 08.10.2024, 12 Uhr

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