Doris Surber sitzt an ihrem Esstisch im Zürcher Oberland und erzählt vom Moment, als sie realisierte, dass sie wohl ADHS hat. «Ich habe einen Artikel gelesen in der ‹Schweizer Familie›, der die Symptome von ADHS auflistet. So vieles hat gepasst», erzählt sie.
Zehn Jahre ist das her, Doris Surber stand kurz vor der Pensionierung. Doch die Symptome hat sie, seit sie klein ist: Sie ist schnell abgelenkt, verliert im Gespräch öfter den roten Faden, hat Mühe sich zu konzentrieren.
Und dann ist da diese innere Unruhe: Während des Interviews spielt Doris Surber konstant mit dem Kugelschreiber. Eine Ersatzhandlung. Denn Erwachsene mit ADHS haben oft gelernt, ihre Unruhe, die Hyperaktivität des ADHS, zu kanalisieren.
Bewegung gehört ebenfalls zu den Strategien, die sich Erwachsene zulegen, um mit ADHS leben zu können. Und eine klare Tagesstruktur.
Das Altern kann für ADHS-Betroffene dramatisch sein
Viele dieser Kompensationsmechanismen kommen im Alter aber ins Wanken. Die Tagesstruktur fällt mit der Pensionierung weg. Der Körper macht die viele Bewegung nicht mehr mit. Es fehlt die Energie, um all die Aufgaben zu erledigen, die sich ansammeln, weil man sie aufgeschoben hat.
«Für ADHS Betroffene kann der Wegfall von Strukturen im Alter dramatisch sein», erklärt Ana Buadze, leitende Ärztin an der Psychiatrischen Uniklinik Zürich, spezialisiert auf ADHS bei Erwachsenen.
Eine mögliche Folge: Die Betroffenen verzweifeln an sich selbst und fallen in eine Depression. Die dann als Depression behandelt wird und nicht als Folgeerkrankung des ADHS. Das heisst, die Ursache der Depression bleibt ungelöst – was eine nachhaltige Behandlung erschwert. Gerade bei älteren Patienten besteht zudem die Gefahr, dass ADHS fälschlicherweise als Demenz interpretiert wird. Und ebenfalls falsch behandelt.
Aufklärung ist nötig
Studien gehen davon aus, dass rund drei Prozent der erwachsenen Bevölkerung von ADHS betroffen ist. Hochgerechnet wären das über 55'000 Personen über 65 in der Schweiz. Deshalb plädiert Psychiaterin Ana Buadze für Aufklärung – in der Bevölkerung ebenso wie in Fachkreisen. Denn gerade bei der älteren Generation ist das Stigma der psychischen Erkrankung noch immer weit verbreitet.
Patientinnen und Patienten aus der älteren Generation fragen mich manchmal nach der Diagnosestellung: ‹Bin ich jetzt verrückt?›
Auch Doris Surber musste sich erst überwinden, um ihr ADHS abklären zu lassen. «Ich dachte, jetzt hab’ ich das auch noch», sagt sie. Psychiaterin Ana Buadze kennt das: «Patientinnen und Patienten aus der älteren Generation fragen mich manchmal nach der Diagnosestellung: ‹Bin ich jetzt verrückt?›»
Keine zugelassenen Medikamente
Behandelt wird ADHS mit Medikamenten, Psychotherapie und Verhaltenstraining für den Alltag. Das ist jedoch nicht unproblematisch. Denn ADHS-Medikamente, die für über 65-Jährige zugelassen sind, gibt es nicht – weil die Medikamente an 18- bis 65-Jährigen getestet wurden. Es kann deshalb sein, dass die Krankenkasse die Kosten nicht übernimmt.
Doris Surber nimmt unterdessen Medikamente, mal regelmässig, mal weniger. Ihr Mann Rolf attestiert: «Wenn sie ihre Medikamente nimmt, ist sie deutlich ruhiger und konzentrierter.»
Doris und Rolf Surber lernen gerade noch, mit der Diagnose und den Medikamenten umzugehen. Für beide ist es aber eine Erleichterung, für die Dinge, die im Alltag nicht so richtig funktionieren, nun einen Namen zu haben: ADHS – im Alter.