Paradox an Irans Universitäten - In Iran studieren mehr Frauen als Männer
Seit Jahrzehnten studieren mehr Frauen als Männer an Irans Universitäten. Sie bezahlen dafür oft einen hohen Preis – und stehen am Ende ohne Perspektiven da. Auch darum spielen Frauen eine tragende Rolle in den aktuellen Protesten.
«Frauen, Leben, Freiheit» – der Slogan der iranischen Proteste erklingt besonders wütend an Irans Universitäten. Seit Wochen demonstrieren Studierende – unter anderem gegen die rigiden Vorschriften zur Trennung von Männern und Frauen auf dem Campus. So ist ein gemeinsames Picknick, wie es Studenten und Studentinnen vor Kurzem auf dem Campus der Scharif-Universität in Teheran abgehalten haben, bereits ein enormes Risiko. Journalistin Natalie Amiri berichtet auf Twitter:
Gerade Studentinnen spielen bei den aktuellen Protesten eine besondere Rolle: Eine akademische Bildung widerspricht dem Rollenbild, das die iranische Regierung für sie vorsieht. Der Zutritt an eine Uni wird ihnen teils sehr erschwert. Dennoch überwiegt der Anteil an Studentinnen bereits seit Ende der 1990er-Jahre jenen der Studenten; heute liegt er bei gut 60 Prozent.
Studieren für ein bisschen Freiheit
«Für iranische Mädchen und junge Frauen gibt es so gut wie nichts anderes, das sie tun können, um einen eigenen Weg einzuschlagen», sagt Encieh Erfani, eine 40-jährige Astrophysikerin, die erst vor wenigen Wochen ihre Stelle an einer iranischen Universität gekündigt hat.
Drei iranische Forscherinnen
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Encieh Erfani ist Astrophysikerin, erfolgreiche Nachwuchsforscherin und arbeitete bis vor Kurzem an der Universität Zanjan im Nordwesten Irans. Sie doktorierte 2012 an der Universität Bonn, engagiert sich in internationalen Gremien zur Förderung junger Forschenden und war unter anderem im Vorstand der Astronomischen Gesellschaft des Iran. Kurz nach Beginn der aktuellen Proteste reichte sie während eines Forschungsaufenthaltes im Ausland ihre Kündigung ein. Sie wollte als Universitätsmitarbeiterin nicht länger für die iranische Regierung arbeiten. Ihre Zukunft ist aktuell ungewiss.
Die Archäologin und Gender-Forscherin Leila Papoli-Yazdi verlor ihre Stelle als Assistenz-Professorin in Iran während der sogenannten «zweiten kulturellen Revolution» unter Präsident Mahmoud Ahmadinejad, einem religiösen Hardliner, der ab 2005 Wissenschaftlerinnen und Professoren, die ihm nicht genehm waren, zur Kündigung zwang. Nachdem sie immer wieder verhört worden war, verliess sie Iran 2019, weil sie sich in ihrem eigenen Land nicht mehr sicher fühlte. Mit Unterstützung der internationalen Organisation Scholars at Risk fand sie eine temporäre Forschungsstelle in Schweden.
Roja Fazaeli verliess gemeinsam mit ihrer Schwester und ihrer Mutter 1992 Iran, da ihre Mutter damals ein Stipendium für einen Forschungsaufenthalt in Irland erhielt. Die iranische Regierung strich das Stipendium jedoch nach wenigen Monaten, weil Roja Fazaeli’s Vater im Iran-Irak-Krieg gefallen war. Ihre Mutter galt in den Augen der Regierung damit als schutzlose Witwe, deren Forschungsaufenthalt im Ausland nicht unterstützt werden sollte. Mithilfe der irischen Regierung fand die Mutter eine Möglichkeit, mit ihren Töchtern in Irland zu bleiben. Roja Fazaeli ist assoziierte Professorin für islamische Zivilisationen, Expertin für den Nahen Osten am Trinity College in Dublin.
Wenn junge iranische Frauen an eine Universität gehen, dafür allenfalls in eine andere Stadt ziehen, ist es für viele das erste Mal, dass sie sich für längere Zeit ausserhalb der familiären Kontrolle bewegen. Ein Hochschul-Abschluss – so die Hoffnung vieler – bringt eine gewisse finanzielle und familiäre Unabhängigkeit, bessere Chancen auf eine Arbeitsstelle, mehr Respekt seitens der Gesellschaft, die Frauen in vielerlei Hinsicht diskriminiert und bevormundet.
Enttäuschte Hoffnungen
Doch die Realität ist eine andere: Bereits während des Studiums seien Frauen von Benachteiligungen und Belästigungen betroffen. «Ich weiss selber von mehreren Fällen sexueller Übergriffe an meiner Universität», sagt die Astrophysikerin Encieh Erfani. «Aber es gab keine Vertrauenspersonen für solche Fälle. Wenn die Betroffenen den Vorfall doch melden, riskieren sie den Studienplatz.»
Die Studentinnen werden ständig überwacht, ob sie die Kleiderordnung einhalten, mit wem sie sich austauschen, ob sie sich im Unterricht kritisch zu Wort melden. «Das verhindert, dass man sich als Frau frei austauschen kann, über Wissenschaft und neue Ideen diskutieren kann», erbittert sich die Archäologin Leila Paoli-Yazdi.
Universitäten, die wie Pilze aus dem Boden schiessen
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In Iran gibt es – gemessen an der Bevölkerung – so viele Universitäten wie in kaum einem anderen Land. Je nach Zählweise sind es heute mehr als 600 – verglichen mit knapp zwei Dutzend kurz vor der islamischen Revolution von 1979.
Die Anzahl der Studierenden stieg während der letzten 40 Jahre fast um das Zwanzigfache. Heute studieren ungefähr 3.2 Millionen Menschen in Iran. Zu Irans Hochschul-Landschaft zählen international angesehene Universitäten wie die Scharif University of Technology. Um dort studieren zu können, müssen Iranerinnen und Iraner eine anspruchsvolle Eintrittsprüfung bestehen.
Daneben gibt es zahlreiche andere Institutionen wie die privaten Islamischen Azaad-Universitäten oder die Payame Noor-Universität, die ausschliesslich Online-Kurse anbietet und im Verruf steht, sehr einfach einen Hochschul-Abschluss zu vergeben.
Die Anzahl Studentinnen übertraf jene der Studenten erstmals im Jahr 1999. Nach der Islamischen Revolution war fast die Hälfte der Studienrichtungen für Frauen verboten, zum Beispiel Tiermedizin, Agrarwissenschaften oder Geologie. Jedoch erhielten zahlreiche Universitäten dadurch auch den Ruf, gemäss den Ideen der islamischen Regierung zu lehren. Das eröffnete gerade jungen Frauen aus religiösen Familien die Möglichkeit eines Studiums.
Bis Mitte der 1990er-Jahre schafften es politische Frauenorganisationen, dass fast alle Restriktionen für Studentinnen aufgehoben wurden. Jedoch führt die iranische Regierung immer wieder Maximal-Quoten ein, um den Frauenanteil in prestigeträchtigen Studienfächern wie Informatik, Ingenieurs- oder Politikwissenschaften zu begrenzen.
Abschluss – was dann?
Auch mit einem Uniabschluss haben die jungen Frauen schlechte Aussichten auf eine Arbeitsstelle. «Frauen tragen nicht einmal 20 Prozent zur Wirtschaftsleistung des Landes bei», sagt Leila Papoli-Yazdi, die zu Diskriminierung und Armut forscht. Das hat zur Folge, dass es für viele der gut ausgebildeten Iranerinnen nur zwei Optionen gibt: heiraten und ein Leben als Ehefrau und Mutter führen – oder das Land verlassen, wenn man sich das leisten kann.
Irans Universitäten sind bis heute ein Ort, wo Ideen entstehen, die den Status quo in Frage stellen.
Nur ein Bruchteil findet eine Stelle in der Industrie oder der Verwaltung – vielen kann das Land jedoch kaum eine Perspektive bieten. Der Unmut darüber sei ein wichtiger Treiber hinter den aktuellen Protesten, sagt Roja Fazaeli, assoziierte Professorin für islamische Zivilisationen. «Denn Irans Universitäten sind bis heute ein Ort, wo Ideen entstehen, die den Status quo infrage stellen.» Der Staus quo ist in diesem Fall: das iranische Regime.
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