Zum Inhalt springen

Stellvertretende Scham Warum wir uns für andere Menschen schämen

Der Partner mutiert auf einer Party zum Alleinunterhalter, die Partnerin lacht in Gesellschaft zu laut – zwei Beispiele, bei denen man sich fremdschämen kann. Auch für Freunde oder Arbeitskollegen kann man sich fremdschämen. Oft hat das jedoch mehr mit uns selbst zu tun als mit der anderen Person.

Er erzählt unlustige Witze, sie trägt wieder einen zu kurzen Rock, der völlig aus der Mode ist. Manchmal schämt man sich sogar für sich selbst, wenn man sich für seinen Partner oder seine Partnerin schämt.

Das leuchtet der SRF-Ratgeberpsychologin und Psychotherapeutin Sandra Figlioli-Hofstetter ein. «Das Fremdschämen sagt mehr über uns selbst aus als über die Person, für die wir uns schämen.» Wir gehen nämlich von der Annahme aus, dass sich jemand in einer bestimmten Situation bestimmt schämen würde.

Fremdschämen gibt es erst seit 2009

Sich für jemanden zu schämen, das tut man wohl schon seit Menschengedenken. Das Verb «fremdschämen», allerdings fand 2009 Eingang in den Duden und war damit erst kurz vorher in unserem aktiven Wortschatz etabliert.

Zwei Studien zum Fremdschämen

Box aufklappen Box zuklappen

Zwei Jahre später, als das Phänomen endlich einen Namen hatte, veröffentlichten Forscher der Philipps-Universität Marburg eine erste Studie dazu. Gleich zu Beginn der Studie schildern sie eine anekdotische Situation, in welcher sich die meisten «fremdschämen»: Stellen Sie sich vor, Sie nehmen an einer Konferenz teil. Während Sie im Publikum sitzen, beobachten Sie, wie der Vortragende mit Toilettenpapier, das an seiner Gesässtasche klebt, den Gang entlang Richtung Rednerpult schreitet. Mehr muss man zu einer solchen Situation nicht sagen. Noch bevor man den Dozenten auf sein Missgeschick aufmerksam machen kann, überlegen sich die meisten, was die anderen im Publikum wohl über ihn denken, so die Studienautoren. Der Dozent ahnt von all dem nichts. «Trotz des unspezifischen emotionalen Zustands des Vortragenden erleben die umstehenden Zuschauer starke Emotionen – stellvertretend», schreiben die Wissenschaftler.

Die Studienautoren fanden in einer zweiten Studie mittels bildgebender Verfahren heraus, dass beim Fremdschämen vergleichbare Gehirnareale aktiv sind, wie wenn man Schmerzen anderer nachempfindet.

Und zwar sind das der vordere cinguläre Cortex und die vordere Inselrinde. Diese sind auch an stellvertretenden Empfindungen des Schmerzes anderer beteiligt. Die Forscher haben herausgefunden, dass diese auch an «sozialen Schmerzen» der anderen partizipieren. Eben, wenn anderen ein Fehler oder ein Fauxpas passiert. Die Forschenden sehen den empathischen Prozess, der am gleichen Ort im Hirn stattfindet, als grundlegende Voraussetzung für stellvertretende Peinlichkeiten. Kurz gesagt: Wer sich fremdschämt, hat eher Empathie.

Kein Wunder, ist das Phänomen bis zu diesem Zeitpunkt auch wissenschaftlich nicht untersucht worden.

Sage ich etwas?

Mutiert der Partner an einer Party zum Alleinunterhalter, gehe es darum, dass man den Partner nicht kritisiert, sondern die Ursache für das Fremdschämen bei sich selbst suche, so die Psychotherapeutin.

«Warum ist mir diese Situation peinlich? Warum stört mich das?» Es gehe darum, dass man lerne, mit dieser Situation umzugehen. Unabhängig davon, dass der Partner Flachwitze erzählt, die man selbst nicht lustig findet.

Und wenn sich der Partner oder eine Freundin ins Abseits manövriert?

Fremdschämen kann man sich auch für Freunde, Bekannte, Kollegen oder Unbekannte, wie die Anekdote mit dem Toilettenpapier aus der Studie zeigt. Häufig schämt man sich aber für den eigenen Partner oder die eigene Partnerin. Geht ihre Alleinunterhalterqualität an einer Party so weit, dass sich alle schämen, empfiehlt die Psychologin, die Partnerin darauf aufmerksam zu machen.

Ein Mann telefoniert im Kino, eine Frau reklamiert und eine Frau schaut geschockt.
Legende: Ein Telefongespräch im Kino führt früher oder später zu Reklamationen und bei anderen Menschen im Saal zu Fremdscham. Colourbox

«Eine authentische und gute Partnerschaft sollte dies aushalten können.» Am besten spricht man die Situation später in aller Ruhe an. Wie immer hat die Psychologin auch die richtigen Sätze parat: «Warum hast Du Dich so verhalten?» Oder: «Darf ich Dir eine Rückmeldung geben, wie das auf mich gewirkt hat? Und vielleicht auch auf andere?» Eine Partnerschaft sollte im besten Fall daran wachsen, so die Psychotherapeutin.

Wenn es mich selbst einschränkt

Sind die Allein­unterhalter­qualitäten des Partners so ausgeprägt, dass man nicht mehr mitgeht an eine Party, empfiehlt Figlioli-Hofstetter ebenfalls ein klärendes Gespräch.

Und etwas Wichtiges darf man auch nicht vergessen: «Fremdschämen hat immer auch damit zu tun, ob man sich mit diesem Menschen identifiziert oder nicht.» Kein Wunder, schämen wir uns, nachdem der Zauber der Verliebtheit vorbei ist, gerade für unsere Liebsten.

Radio SRF 1, Ratgeber, 14.10.2024, 11:08 Uhr

Meistgelesene Artikel