«Die mit den schönen Locken werde ich nie mehr sein, und das zu akzeptieren, ist nicht einfach», sagt Corina Destraz, wenn sie an ihre Locken von früher denkt. Die 35-Jährige kämpft seit ihrem 20. Lebensjahr mit erblich bedingtem Haarausfall. «Ich erhalte ironischerweise Komplimente für meine Kurzhaarfrisur, obwohl ich den Scheitel nur mache, um meine lichten Stellen zu verstecken», erzählt sie.
Mit ihrem Problem ist sie nicht allein. Bis zum 70. Lebensjahr sind knapp 40 Prozent der Frauen und 80 Prozent der Männer von erblich bedingtem Haarausfall betroffen. Die Haare wachsen in den sogenannten Haarfollikeln in der Kopfhaut immer wieder neu nach. Die Follikel versorgen das Haar in der Wachstumsphase mit Nährstoffen und verankern es in der Kopfhaut.
Genetisch anfällige Haarfollikel reagieren mit den Jahren überempfindlich auf das Hormon Dihydrotestosteron DHT. Diese genetische Anfälligkeit betrifft meist nur einen Teil der Follikel und kann von mütterlicher oder väterlicher Seite vererbt werden. DHT beeinträchtigt bei überempfindlichen Follikeln die Blutzufuhr. Seine haarbildenden Zellen beginnen abzusterben. Gleichzeitig schrumpft der Follikel und verkümmert schliesslich. Die Haare werden immer dünner und spärlicher, bis der Nachschub schlussendlich ganz versiegt.
Erfolglose Therapieversuche
Corina Destraz hat bereits verschiedenste Mittel ausprobiert, um ihren vererbten Haarausfall zu bekämpfen. Weder Vitamintabletten noch Spritzen mit Eigenblut in die Kopfhaut haben eine Wirkung gezeigt.
«Ich habe mir dreimal im Abstand von vier Wochen Eigenblut in die Kopfhaut spritzen lassen. Ausser hohen Kosten habe ich jedoch keinen Effekt auf das Haarwachstum bemerkt», erinnert sie sich.
Bei der sogenannten PRP-Behandlung wird das eigene Blut mithilfe einer Zentrifuge aufbereitet, um das Blutplasma mit seinen Blutplättchen zu gewinnen. Das Blutplasma wird anschliessend in die vom Haarausfall betroffenen Regionen der Kopfhaut gespritzt. Dadurch soll die Durchblutung der Follikel und das Haarwachstum gefördert werden. Empfohlen wird, die Therapie im Abstand von einem Monat drei- bis viermal zu wiederholen. Eine einzelne PRP-Behandlung kostet rund 500 Franken.
Die Methode wird von vielen Spezialisten angeboten, die wissenschaftliche Studienlage zur Wirkung bei erblich bedingtem Haarausfall ist jedoch dünn und es fehlen Langzeitdaten.
Medikament mit Nebenwirkung
Corina Destraz hat auch einen Therapieversuch mit Minoxidil gestartet. Minoxidil gilt als einer der wenigen Wirkstoffe, die gegen erblich bedingten Haarausfall wissenschaftlich belegte Wirkung zeigen. Das ursprüngliche Blutdruckmittel Minoxidil bremst in zwei Drittel der Fälle den Haarausfall. Der genaue Wirkmechanismus ist jedoch noch ungeklärt.
«Leider verursachte das Medikament bei mir eine juckende und brennende Kopfhaut, sodass ich die Therapie, die man eigentlich ein Leben lang durchführen müsste, nach wenigen Monaten abbrach», erinnert sich Corina Destraz. Tatsächlich kann Minoxidil Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Atemnot oder Hautreizungen auslösen.
Mut durch soziale Medien
Lange Zeit leidet sie wie viele Frauen im Stillen unter ihrem Haarausfall. Dann beginnt Corina Destraz, sich in einer Facebook-Gruppe mit anderen Betroffenen auszutauschen. Sie erinnert sich an einen Post, der die Verzweiflung einer Frau beschreibt, die täglich versucht, ihren Haarausfall zu verstecken, und sich fragt, wie lange sie das noch durchhalten kann. «Solche Kommentare zeigen, wie gross der psychische Druck für viele Frauen ist», betont Corina Destraz.
Den Druck, die lichten Stellen ständig kaschieren zu müssen, wollte ich endlich hinter mir lassen.
In den sozialen Medien findet sie aber auch Unterstützung durch Frauen, die offen zu ihren lichten Stellen stehen. Einige rasieren sich die Haare sogar ab und zeigen sich stolz ohne Perücke oder Mütze. Auch Corina Destraz überlegt sich seit Jahren, diesen Schritt zu wagen: «Den Druck, die lichten Stellen ständig kaschieren zu müssen, wollte ich endlich hinter mir lassen.»
Rasur als Befreiung
Im November 2022 ist der grosse Moment gekommen. Corina Destraz rasiert sich die Haare ab. Den Versuch dokumentiert sie für das SRF-Format «rec.» mit der Kamera. Ihr Ehemann Frederic unterstützt sie bei der Aktion. «Für mich ändert sich nichts, und wenn du dich damit wohler fühlst, ist das ja super», sagt er.
Zuerst muss sich Corina Destraz jedoch an ihr neues Erscheinungsbild gewöhnen. Insbesondere in der Öffentlichkeit fühlt sie sich zu Beginn unwohl: «Irgendwie fühlte ich mich physisch und psychisch nackt, irgendwie wie ausgestellt», erzählt sie. Einige Wochen später hat sie sich an ihr neues Erscheinungsbild gewöhnt, mehr noch: «Das Gefühl meinen Haarausfall verstecken zu müssen, ist durch das Rasieren tatsächlich verschwunden», freut sie sich.
Unterstützung durch das Umfeld
Unterstützung erhält sie von ihren Eltern. Vater Christian Borer ist stolz, dass seine Tochter so mutig ist, mit ihrem Problem an die Öffentlichkeit zu treten: «Man muss nicht, aber man kann dazu stehen und dann finde ich es stark, dass man es auch macht.»
Corina Destraz will mit ihrer Rasur denn auch auf die Problematik von Frauen mit Haarausfall aufmerksam machen. Mutter Sylvia Thommen unterstützt die Aktion: «Wenn mehr Menschen verstehen, was für ein Leiden mit dem Haarausfall verbunden ist, dann wären sie auch toleranter», ist sie überzeugt.
Zurück zum Kaschieren
Als «Puls« Corina Destraz knapp zwei Jahre nach dem Selbstversuch besucht, trägt sie wieder dieselbe Kurzhaarfrisur wie vor der Rasur: «Nach einem Jahr Glatze hatte ich das Bedürfnis, wieder Haare zu haben», erklärt Corina.
Die lichten Stellen sind zwar immer noch da und auch die Angst, dass diese zu sehen sind: «Auch jetzt tauche ich meinen Kopf im Schwimmbad beispielsweise nie unter Wasser, weil mit nassen Haaren die Stellen mit dem spärlichen Haarwuchs sofort sichtbar werden», sagt sie. Trotzdem wertet sie den Versuch als Erfolg, denn diese Erfahrung habe ihr geholfen, ihren Haarausfall zu akzeptieren.
Zudem fügt sie an: «Durch den Selbstversuch mit der Rasur ist das Problem für mich kleiner geworden, denn ich weiss jetzt, dass ich, falls der Haarausfall noch schlimmer wird, jederzeit zur Glatze zurückkehren kann.»