Eine eiskalte Nacht am Ofenpass in Graubünden, zweistellige Minusgrade, Vollmondlicht auf der offenen Fläche – und irgendwo dort draussen zwei Wölfe.
Gut getarnt und warm in einen dicken Daunenschlafsack gepackt, hielt der Wildbiologe Heinrich Haller im Januar 2023 nächtelang Wache, um dort das neue Paar zu beobachten.
Der Zufall spielt die entscheidende Rolle
Jeder Schatten, jedes Knacken im nahen Wald könnte ihr Auftauchen ankündigen. Tage zuvor hatte Haller Spuren entdeckt. Auf einmal huschte endlich etwas durch das Halbdunkel, was sein Adrenalin sofort in die Höhe schiessen liess. Es war dann aber nur ein ganz gewöhnlicher Fuchs.
Um einen Wolf bei uns zu sehen, spiele der Zufall eine entscheidende Rolle, sagt Haller, ehemaliger Direktor des Schweizerischen Nationalparks und Autor des neuen Buches «Der Wolf – ein Grenzgänger zwischen Natur und Kultur». Der Wolf sei derzeit das wohl populärste, aber auch weiterhin am meisten diskutierte einheimische Wildtier.
Mit der Kamera dem Wolf auf der Spur
-
Bild 1 von 5. Die Wölfin F18 am frühen Morgen im Ofenpassgebiet am 19. Oktober 2022. Bildquelle: Heinrich Haller.
-
Bild 2 von 5. Trittsiegel des Wolfs: Typisch ist, dass Vorder- und Hinterpfote im selben Bereich aufgesetzt werden. Bildquelle: Heinrich Haller.
-
Bild 3 von 5. Neugieriger Nachwuchs: Drei Welpen aus dem Wurf 2023 bei Davos. Bildquelle: Heinrich Haller.
-
Bild 4 von 5. Gefährliche Wanderung: Ein Davoser Jungwolf im Scheinwerferlicht des Autos am 15. November 2023. Bildquelle: Heinrich Haller.
-
Bild 5 von 5. Wachsamer Blick: Der fünfeinhalb Monate alte Jungwolf aus dem Rudel bei Davos schaut sich in der Gegend um. Bildquelle: Heinrich Haller.
Das Thema Wolf polarisiert und spaltet nach wie vor die Gesellschaft. Die einen freuen sich über seine Anwesenheit, die anderen ärgern sich. Nach dem aktuellen Stand der Stiftung «Kora», die hierzulande für das Wolfsmonitoring zuständig ist, gibt es derzeit 25 Schweizer Rudel sowie elf Grenzüberschreitende.
Haller macht keinen Hehl aus seiner Faszination für den Wolf, der vor 30 Jahren erstmals wieder von allein in die Schweiz zurückkehrte. Gleichzeitig ist er aber auch ein Pragmatiker und sagt, dass notorische Schadensstifter oder auffällige Tiere ohne Scheu gezielt geschossen werden sollten. Für ihn sei jedoch ein effizienter Herdenschutz weiterhin das A und O. Hier dürfe nicht an der falschen Stelle gespart werden.
221 Wölfe in der Schweiz
Mit seinem Buch will er die aktuelle Debatte über das Wolfsmanagement in einen grösseren Zusammenhang stellen. Er erklärt darin unter anderem, warum das Entfernen ganzer Rudel letztlich kaum zielführend ist. Im Fokus steht oft aber vielmehr die Frage, wie viele Wölfe gesellschaftlich überhaupt akzeptiert sind.
Gemäss der diese Woche publizierten Übersichtskarte wurden letztes Jahr 221 Individuen in der Schweiz nachgewiesen – abzüglich der vor Kurzem getöteten rund 100 Wölfe. Denn seit Anfang Juni 2024 bis Ende Januar 2025 wurden sieben Einzelwölfe getötet und 92 Wölfe proaktiv aus Rudeln geschossen. Bei einem Grossteil der regulierten Wölfe handelte es sich um Welpen. Bei zwei Rudeln wurden beide Elterntiere erlegt. Bei einem weiteren Rudel wurde das zweite Elterntier im benachbarten Ausland geschossen.
Rund 60 Welpen getötet
Insgesamt hat es im vergangenen Jahr mindestens 139 Welpen gegeben, 19 mehr als im Vorjahr. «In den letzten Monaten wurden rund 60 Welpen während der proaktiven Rudelregulierung erlegt, was fast der Hälfte aller Welpen entspricht», sagt der Wolfsexperte Sven Buchmann von «Kora», der die neue Statistik jetzt veröffentlicht hat. Generell würden jedoch viele Jungtiere auch aufgrund von Verkehrsunfällen, Krankheiten oder Konkurrenz untereinander sterben.
Im Schutz selbst gebauter Erdbauten kommen Ende April und Anfang Mai erneut viele Wolfswelpen mit verschlossenen Augen und Ohren auf die Welt. Nach rund zwei Wochen fangen sie an, etwas zu sehen und zu hören und lernen, ihre Umwelt immer mehr zu erkunden. Pro Rudel sind es zumeist vier bis sechs Welpen.
Nachdem Haller auch im Sommer 2023 wieder tage- und nächtelang für die Beobachtung des umstrittenen Grossraubtiers auf die Pirsch ging und in Tarnkleidung durch die Wildnis streifte, wurde er für seine enorme Ausdauer und Geduld letztlich mehr als belohnt.
Ich war wie elektrisiert.
So hat er frühmorgens in einem Seitental von Davos zuerst frischen Wolfskot gefunden und einen Tag später junge Wolfswelpen entdeckt. «Da war ich wie elektrisiert», sagt er. Denn es sei die erste wölfische Niederkunft – seit mehr als 200 Jahren – in seiner eigentlichen Heimatregion gewesen.
Mit ausreichend Abstand und im Windschatten versteckt, hatte der Bündner Wildbiologe in aller Ruhe das turbulente Treiben der Jungen beobachten können. Völlig unbekümmert spielten dort fünf zwei Monate alte Welpen. Sie balgten sich, rannten einander hinterher, suchten den gegenseitigen Körperkontakt, um kurz darauf wieder aufzubegehren. Es sei absolut faszinierend gewesen.
Leere Reviere werden rasch wieder besiedelt
«Das Wolfsmanagement ist keine einfache Sache, da es ein sehr dynamischer Prozess ist», sagt Buchmann von «Kora». Junge Männchen verlassen ihren Familienverband und suchen sich neue Reviere, um selbst ein Rudel zu gründen. Zum Teil ziehen sie dafür hunderte Kilometer weit weg.
Mit dem Spruch «Nur ein toter Wolf ist ein guter Wolf» äussern einige Wolfskritiker gern ihren Unmut. «Doch jeder Wolfsabschuss muss gut überlegt und begründet sein», sagt Haller. Zum Beispiel kann sich bei einem Rudel dadurch die soziale Struktur verändern. Zudem kann ein leer geschossenes Revier auch rasch wieder besiedelt werden. Denn in unseren Nachbarländern wie Frankreich und Italien leben viele Wölfe, die laufend in die Schweiz einwandern.
Abnahme bei gerissenen Schafen
Effizienter und wohl auch kostengünstiger als Abschüsse wäre es, so Haller, den Herdenschutz konsequent in den Vordergrund zu stellen. Im vergangenen Jahr wurden beispielsweise weniger als halb so viele Schafe gerissen als im Rekordjahr 2022.
Der Wolf ist ein Hetzjäger und Opportunist: «Er reisst Beute, wann immer sich eine günstige Gelegenheit bietet», erklärt Buchmann. Hauptsächlich ernähren sich Wölfe jedoch von Huftieren, sie sind bei der Wahl ihrer Beute aber sehr anpassungsfähig.
Auf immer mehr Schweizer Alpweiden wachen inzwischen Herdenschutzhunde der Rasse «Chien de Montagne des Pyrénées» oder «Maremmen-Abruzzen-Schäferhunde» über Nutztierherden. Aber auch dies ist anspruchsvoll. Zum einen kann es unter den zwei bis sechs Wachhunden zu Streit kommen, etwa aufgrund der Hierarchie untereinander. Zum anderen gibt es gelegentlich auch Konflikte zwischen den aufmerksamen Herdenhunden und Wanderern sowie Mountainbikern.
«Im Schnitt werden jedes Jahr 20 bis 30 Personen oder Begleithunde gebissen», sagt Daniel Mettler von Agridea, der Fachstelle des Bundes für Herdenschutz. Meist handelt es sich um leichte Verletzungen wie Kratzer oder Hämatome, vereinzelt jedoch auch um tiefere Wunden, die eine ärztliche Behandlung brauchen.
Der Wolf im Hund
Die Domestizierung der Vorfahren des Wolfes liegt schon mehrere 10'000 Jahre zurück. Obwohl ein Chihuahua oder Pudel überhaupt nicht mehr wie sein in der Wildnis lebender Verwandter aussieht, ist der genetische Unterschied zwischen Haushund und Wolf sehr gering. «Wolf und Hund gehören beide zur selben Art», sagt Haller.
Dennoch scheiden sich beim Wolf die Geister. Manche sind geradezu verzaubert von den bernsteinfarbenen Augen, akkurat stehenden Ohren, der langen Nase, den hohen Beinen und geradem Rücken. Andere nehmen dagegen eher seine tief eingeschnittene Mundöffnung und das Gebiss mit den markanten Eck- und kräftigen Reisszähnen wahr. Für sie ist er auch keine Bereicherung für die Fauna und Natur, sondern ein Unruhestifter.
Die Anwesenheit des Wolfes kann durchaus auch positive Effekte haben: Als Beutegreifer sind Wölfe wichtig für intakte Lebensräume. «Sie erbringen auch ökologische Leistungen, die gerade im Zusammenhang mit Schutzwaldungen in den Alpen eine wichtige Rolle spielen», sagt Haller. Denn Wölfe können dafür sorgen, dass weniger Rehe und Hirsche die Triebe der Bäume verbeissen oder die Stämme schälen. Dadurch kann sich ein Wald besser verjüngen.
Wie viel Platz hätte es jedoch rein theoretisch für den Wolf? Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) hat gemäss der revidierten Jagdverordnung für die ganze Schweiz neu eine Mindestanzahl von zwölf Rudeln festgelegt. Dabei gehe es nicht mehr um eine Regulierung, sondern um eine Dezimierung, betont Haller.
Denn für die Wolfsregion «Südostschweiz» betrage dieser willkürlich festgelegte Wert dann lediglich noch drei Rudel, etwa zehn Prozent der möglichen Dichte. Aber das sei nur die biologische Perspektive, ergänzt er. Es gäbe natürlich auch die andere, nämlich die gesellschaftlich, politische.
Das Nebeneinander von Wolf und Weidewirtschaft sei zwar anspruchsvoll, aber mit einem guten Herdenschutz möglich, sagt Haller. Für ihn persönlich sei es ein Glücksmoment gewesen, die Wolfswelpen bei Davos zu entdecken und für sein Buch zu fotografieren. Bei seinen zahlreichen Exkursionen in der morgendlichen Dämmerung habe er auch viele andere Tiere beobachten können. Schliesslich sei er vor allem ein Naturfreund.