Die Highlights des Jahres
Milo Rau: «Antigone im Amazonas»: Antigone wehrt sich. Sie sagt nein. Nein zum Verbot ihres Onkels Kreon, ihrem Bruder ein würdiges Begräbnis zu geben. Das kostet sie das Leben. Antigone ist aber nicht nur eine der stärksten Frauenfiguren der Theaterliteratur. Das gleichnamige Stück von Sophokles kommt auch gerade wieder auffällig oft auf die Bühne. Der Regisseur Milo Rau hat seine Antigone in Brasilien gefunden, bei Aktivisten der Landlosenbewegung, die sich für die Rechte der Indigenen Bevölkerung und eine radikale Bodenreform einsetzen.
Kolonialismus, Aktivismus und Solidarität: In «Antigone im Amazonas» kommen nicht nur grosse Fragen auf die Bühne, sondern auch unterschiedliche künstlerische Darstellungsformen. Dokumentarische Videoaufnahmen von den Recherchereisen im Amazonas, die Nachstellung eines Massakers von 1996 und Live-Schauspiel verbinden sich zu einem beeindruckenden und erstaunlich nachdenklichen Theaterabend. Im Frühling wird das Spiel nach einer Europatournee in Zürich gastieren. (Dagmar Walser)
«Bühnenbeschimpfung» am Theater Winkelwiese: Wer kennt die Schwächen der Institution besser als diejenigen, die drin sind? In ihrer zum «Stück des Jahres» gekrönten «Bühnenbeschimpfung» klopft die Autorin Sivan Ben Yishai dem Theater aus der Innensicht auf die Finger: «Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr» heisst der Untertitel. Yishai greift strukturelle Diskussionen auf, die den Theaterbetrieb und die gesamte Gesellschaft bewegen: Übergriffe, Machtmissbrauch, verinnerlichte toxische Strukturen.
Yishai beleuchtet die Risse in der moralischen Anstalt, die Widersprüche zwischen den Ansagen auf der Bühne und dem Theater als Institution, die ihrem eigenen Anspruch hinterherhinkt. Klug, komisch und getragen von einer tiefen Liebe trotz allem. Die junge Regisseurin Julia Skof hat das Stück im Zürcher Theater Winkelwiese in Koproduktion mit den Bühnen Bern auf Schweizer Verhältnisse angepasst, in der Kritik konkretisiert und mit zwei Schauspielerinnen und zwei Schauspielern lebendig und liebevoll inszeniert. (Andreas Klaeui)
Die Überraschung des Jahres
Wie geht’s weiter am Schauspielhaus Zürich? Ein Entscheid des Verwaltungsrats des Zürcher Schauspielhauses schlug hohe Wellen: Sie werden den Vertrag mit ihren aktuellen Intendanten nicht über die Spielzeit 23/24 hinaus verlängern. Dass auf die Schnelle der renommierte deutsche (gerade frisch pensionierte) Intendant Ulrich Khuon für ein Zwischenjahr gewonnen werden konnte, war eine Überraschung.
Eine Überraschung war es auch, als dann Anfang Dezember Pınar Karabulut und Rafael Sanchez als Co-Leitung ab Spielzeit 25/26 verkündet wurden. Sie stehen für eine Weiterführung der Öffnung des Schauspielhauses, die Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg in den letzten Jahren angefangen haben. Gut so. (Dagmar Walser)
Der Flop des Jahres
Die «Hundekot-Affäre»: An der Staatsoper in Hannover kam es im Februar bei einer Premiere zu einem Eklat: Der Ballettdirektor Marco Goecke drückte in der Pause einer Kritikerin einen Beutel mit Hundekot ins Gesicht. Der Vorfall war in seiner Drastik unerhört – und ist inzwischen selbst Stoff für einen Theaterabend geworden.
Er erzählt viel über das Verhältnis von Kunst und Kritik. Es gibt kaum noch kritische Rezensionen in den Medien. Da fehlt für die Kunst ein wichtiger öffentlicher Spiegel – und vereinzelt auch schon die Gelassenheit im Umgang mit einer nicht genehmen Aussenperspektive. (Andreas Klaeui)