Die Highlights des Jahres
«Zwei Sekunden brennende Luft» von Diaty Diallo: Ein kraftvolles Buch, das grosse Explosionskraft besitzt. In ihrem Debüt erzählt die Französin von Jugendlichen mit arabischem und afrikanischem Hintergrund, die in der Pariser Banlieue aufwachsen. Von Familie, Freundschaft und erster Liebe, aber auch von Perspektivlosigkeit, Krawall, Polizeigewalt, Rassismus und Tod.
Die Jugendlichen treffen sich regelmässig auf einem Platz. Sie reden, hören Musik und werden mehrfach täglich von der Polizei kontrolliert. Bis zum Tag, an dem die Situation eskaliert und ein Junge von der Polizei erschossen wird.
Die Autorin schreibt gegen die Stigmatisierung von Jugendlichen an, die einfach nur, weil sie jung sind und in einer sogenannten Problemzone leben, unter Generalverdacht stehen. Doch «Zwei Sekunden brennende Luft» ist im Kern ein Buch über die Adoleszenz. Diallos Sprache pulsiert, hat Rhythmus und Klang. Sie schafft Atmosphäre: Man begreift die Welt dieser Jugendlichen, die unter Extrem-Bedingungen heranwachsen. Eine literarische Entdeckung. (Annette König)
«Gentleman über Bord» von Herbert Clyde Lewis: In diesem Jahr hat der Mare Verlag einen literarischen Schatz gehoben: Herbert Clyde Lewis wirft einen «Gentleman über Bord» – eine Parabel über die Gesellschaft, die heute so treffend ist wie 1937, als sie erschien. Lewis beschreibt unser Bedürfnis und unsere Illusion, alles unter Kontrolle zu haben. Nun liess der Mare Verlag diese Gesellschafts-Tragikomödie erstmals ins Deutsche übersetzen.
Der Roman erzählt eine existenzielle Geschichte: Ein Geschäftsmann unternimmt eine Schiffsfahrt, gleitet auf einer Ölpfütze aus und fällt über Bord. In den folgenden 24 Stunden durchläuft er unterschiedlichste Phasen: zu Beginn noch durchdrungen von Selbstgewissheit, zerbricht sein Weltbild allmählich. Er lernt, der «Geworfenheit» seines Daseins zu begegnen. Derweil legt sich die Gesellschaft auf dem Schiff ihre ganz eigene Version der Geschichte zurecht.
Alles, was Bedeutung hat, versinkt: Lewis erzählt in eindrücklichen Bildern und mit einer wunderbar ironisch-distanziert-zeitlosen Sprache. (Markus Tischer)
Die Überraschung des Jahres
«Sturz in die Sonne» von Charles Ferdinand Ramuz: Im Juli 1921 wurde in Genf ein Temperaturrekord von 38.3 Grad verzeichnet. Zu jener Zeit war eine derartige Hitze aussergewöhnlich. Den waadtländischen Autor Charles Ferdinand Ramuz hat das zu einem Gedankenexperiment inspiriert: Was, wenn es immer heisser und heisser wird?
Diese Frage verhandelt Ramuz im Roman «Présence de la mort». Vor 100 Jahren geschrieben, ist das Buch heute aktueller denn je. Bislang gab es «Sturz in die Sonne» nicht auf Deutsch. Die diesjährige Übersetzung ist nicht nur eine Überraschung, sondern eine kleine Sensation. (Katja Schönherr)
Der Flop des Jahres
«The Shards» von Bret Easton Ellis: Der 57-jährige US-Amerikaner Bret Easton Ellis ist ein Superstar und Popliterat erster Stunde. Sein Thema: die kaputte Welt der Schönen, Reichen und Erfolgreichen. Sein berühmtestes Buch: «American Psycho» (1991). Es war so brutal, dass es teils auf den Index kam und Ellis Polizeischutz brauchte.
Zuletzt publizierte Ellis 13 Jahre nichts, dann erschien mit viel Tamtam «The Shards». Im Fokus: wohlstandsverwahrloste Jugendliche an einem Elite-College 1981. Alles wäre Party, tauchte da nicht ein Serienmörder auf. Leider macht Ellis schnöselige Autofiktion daraus. Bei aller Erzählkunst: leer statt erschreckend. (Franziska Hirsbrunner)