Die Highlights des Jahres
Uraufführung von «Lili Elbe»: Endlich wurde eine erste grosse und abendfüllende Oper über eine trans Person komponiert und uraufgeführt. Und zwar in der Schweiz, am Theater St. Gallen! Die gut zweistündige Oper «Lili Elbe» ist somit nicht nur eine Repertoire-Bereicherung, sondern ein musikhistorisches Ereignis. Sie war zudem eine kühne Programmwahl für die Wiedereröffnung des frisch renovierten Paillard-Baus.
Um die Lebens- und Liebesgeschichte der dänischen Landschaftsmalerin Lili Elbe und ihrer Frau Gerda möglichst authentisch zu erzählen, stütze sich der Librettist Aryeh Lev Stollman auf historische Quellen, und als Dramaturgin brachte die Heldenbaritonistin Lucia Lucas die Trans-Perspektive mittels eigener Erfahrungen ein. Der in den USA sehr erfolgreiche Komponist Tobias Picker (Stollmans Mann) hat dafür eine eingängige, farbig orchestrierte Musik geschrieben. Sie bietet sowohl schmissige Foxtrott-Anklänge wie auch Verismo-Dramatik. Lucas glänzte in der Titelpartie mit ihrer charaktervollen und raumgreifenden Stimme und mit darstellerischer Ausdruckskraft. (Moritz Weber)
Orchesterkoloss «Fett» von Enno Poppe: Beim Lucerne Festival gab es in diesem Sommer viel Musik des composer-in-residence Enno Poppe zu hören. Der liebt die fremdartigen Klangwelten der Mikrotonalität, also von Intervallen, die kleiner als Halbtöne sind und geheimnisvolle Schatten und Wolken über die Musik legen können. Poppe liebt auch kurze, kräftige und sprechende Titel: seine Stücke heissen ‹Rad›, ‹Holz›, ‹Tier› oder ‹Salz› – da öffnen sich Assoziationsräume.
Wie auch in dem Werk, das die finnische Dirigentin Susanna Mälkki Anfang September dirigierte: ‹Fett› heisst es, das klingt schon so nach Ausrutschen (und ja: die mikrotonalen Akkorde ziehen uns tatsächlich den Boden unter den Füssen weg). Klar, es könnte auch gemeint sein, dass alles ziemlich fett und dick orchestriert ist? Auch das. Bis zu 40-stimmige Akkorde gibt es in der Musik. Mälkki hat das Stück als Chefin des Helsinki Philharmonic Orchestra bereits vor fünf Jahren uraufgeführt und es nun in Luzern mit dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra so plastisch und präzis dirigiert, dass einen dieser Klang-Dschungel richtig einsaugt. Grosse Klasse.
Die Überraschung des Jahres
Neoklassik von Lana Kostic: Ihr Talent wurde im Fahrstuhl entdeckt, als sie, 10-jährig, ein Liedchen vor sich hin trällerte. Ein Cellist hörte sie und riet ihr, sich der Musik zu widmen. Das hat sie getan. Heute ist Lana Kostic als Kunstfigur Lakiko auf den Bühnen unterwegs, singt, spielt Cello und macht Musik, zwischen Neoklassik und Pop.
Die grosse Überraschung: Ich als Neoklassik-Verächterin hörte mir das Album an – und war hingerissen. Denn Neoklassik ist nicht gleich Neoklassik. Auch da gibt’s langweilig und spannend! (Annelies Berger)
Der Flop des Jahres
«Pferd frisst Hut» von Herbert Grönemeyer und Herbert Fritsch: Die Erwartungen an Herbert Grönemeyers erste Oper waren riesig! Ebenso riesig war die Enttäuschung. Denn das, was er gemeinsam mit Regisseur Herbert Fritsch in «Pferd frisst Hut» auf die Bühne des Theaters Basel gebracht hat, reiht drei Stunden lang kindische Slapstick-Komik und peinliche Wortspiele aneinander.
Mit flachem Humor wird ein egozentrisches Männerbild gefeiert, von dem auch Grönemeyers ohrwurmverdächtige Melodien nicht ablenken können. Schade – denn das Ensemble spielt trotz allem hervorragend! (Jenny Berg)