Sie hörte die eigene Stimme auf MTV, doch im Musikvideo bewegte eine weisse Tänzerin ihre Lippen dazu. Das geschah der US-amerikanischen Sängerin Lori Glori 1994.
Sie sang für DJ Bobo die Melodien seiner erfolgreichsten Hits im Studio ein, wurde aber am Millionenerfolg nie beteiligt. Sie erhielt lediglich einmalig 10'000 Deutsche Mark für ihre Studiotätigkeit – das sind etwa 5000 Franken. Eine Klage aus dem Jahr 2000 wurde abgewiesen.
Von der Kirche zum Dancefloor
Das Musical «Last Night a DJ Took My Life» der deutschen Regisseurin und Choreografin Joana Tischkau beschreibt Lori Gloris Lebensgeschichte – und Lori Glori steht dabei selbst auf der Bühne der Schiffbau-Box des Schauspielhauses Zürich.
Das Stück erzählt ihren Weg von ihren Anfängen mit ihren zwei Schwestern und den ersten Gospelauftritten bis hin zu ihren Chartsplatzierungen in Deutschland mit der Band Intermission und dem Skandal mit DJ Bobo. Dabei sind sowohl die Handlung als auch die Charaktere fiktionalisiert. Die Verbindung zur Realität ist aber unverkennbar.
«I am many voices»
«Ich bin viele Stimmen», eröffnet Lori Glori das Stück, denn ihr Schicksal steht stellvertretend für viele. Im Aufkommen des Eurodance und einem Begehren nach afro-amerikanischer Kultur in Europa fand viel kulturelle Aneignung statt, aus der weisse DJs und Produzenten Profit schlugen – ohne ihre schwarzen Musikerinnen und Musiker fair zu bezahlen.
Das alles passierte gemäss dem Motto: «Alle sind gleich. Ich sehe keine Hautfarbe.» – In Wirklichkeit wurde aber darunter verstanden: «Alle dürfen alles. Jeder bedient sich allem.»
Unterwasserwelt
Lori Gloris Geschichte weist viele Parallelen zum Märchen «Arielle, die Meerjungfrau» von Hans Christian Andersen auf. Wie es Lori Glori geschah, wurde Arielle die Stimme gestohlen, im Versprechen dadurch neues Terrain erkunden zu können. In Lori Gloris Fall: Fuss zu fassen im Musikbusiness in Deutschland und der Schweiz.
Joana Tischkaus Stück spielt deshalb auch unter Wasser. Extravagante Kostüme, Haare aus Perlen und Breakdance in Flossen – ein Mix zwischen Fantasy und Technokultur umrahmen die Handlung.
Stimme stark wie eh und je
Stimmlich ist die 62-jährige Lori Glori so präsent wie zu Zeiten ihres Durchbruchs in den 1990er-Jahren, schauspielerisch wirkte sie etwas eintönig. Genau umgekehrt der Cast des Schauspielhauses Zürich: Sie spielen überspitzt und humorvoll, ohne die Kritik an der Musikindustrie versanden zu lassen, während die gesangliche Leistung Luft nach oben lässt.
Die Rap-Partien des DJs kommen stilgetreu daher. Viel Spannung kreieren auch die neuen Versionen der Eurodance-Stücke. Die Songtexte werden durch Strophen ersetzt, die Kritik am Musikbusiness üben.
Wandelbare Bühne
Das Bühnenbild ist eine überdimensionale Schallplatte, die schon zu Beginn des Stücks Risse aufweist und die Hinterhältigkeit des Musikbusiness ankündigt.
Im Verlauf des Stücks zerbröckelt sie und verwandelt sich: zum Fernseher, auf dem verfremdete «Tagesschau»-Beiträge aus dem Deutschland der 1990er-Jahre gezeigt werden, die die Problematik unterstreichen.
Und hin zu einem Talkshow-Set, an dem der DJ und der Produzent Rede und Antwort stehen müssen – und schliesslich in eine Bühne für Lori Glori, die nach dem Stück ihre neuste Single «Count Your Blessings» für die Standing Ovations performt.