Zürich, Anfang März dieses Jahres: Ein Teenager, mit einem Messer bewaffnet, verübt auf offener Strasse einen Anschlag auf einen orthodoxen Juden. Der Mann überlebt, weil Anwesende beherzt eingreifen. Allen voran ein Kampfsportler aus Neuenburg, dem es gelingt, den Angreifer zu überwältigen und das Opfer bei Bewusstsein zu halten, bis Polizei und Ambulanz eintreffen.
Einen Monat später sitzt Jonathan Kreutner im Radiostudio. Der Schock sitze bei ihm immer noch tief, sagt der Generalsekretär des Schweizerisch Israelitischen Gemeindebundes SIG. «Der 3. März 2024 markiert eine Zäsur für die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz.» Ein solches Hassverbrechen in der Schweiz habe er für unmöglich gehalten.
Glücklicherweise gehe es dem Opfer den Umständen entsprechend gut. Vor kurzem habe er den Mann besucht: «Wir sprachen vor allem über die Menschen, die ihm an dem Abend in Zürich das Leben gerettet haben. Ihm sei klar: Er hat überlebt, weil Passanten beherzt eingegriffen haben.»
Dass ein Mann mit Kampfsportausbildung vor Ort war und Schlimmeres verhindern konnte, sei ein grosses Glück gewesen. Besondere Beachtung gelte aber auch den anderen Involvierten: «Unbekannte, von denen man nicht weiss, wer sie sind, haben Zivilcourage an den Tag gelegt», sagt Kreutner.
Mehr Angriffe auch auf muslimische Personen
Für Muslime und Musliminnen in der Schweiz gehören Übergriffe, Diskriminierung und Generalverdacht schon lange zum Alltag. Ebnomer Taha, Vorstandsmitglied in der Vereinigung Islamischer Organisationen Zürich (VIOZ), stellt fest: «Die Übergriffe haben zugenommen, man sieht’s und spürt’s.» Der muslimische Seelsorger, der in Zürich in der Psychiatrischen Uniklinik und im Unispital arbeitet, nennt Beispiele: «Frau mit Kopftuch wird an der Bushaltestelle vom Chauffeur beschimpft und nicht mitgenommen. In Ostermundigen wird eine Moschee beschädigt.»
In Bad Ragaz kommt es kurz nach dem Attentat auf den Juden in Zürich zu einem brutalen Überfall auf einen muslimischen Vater und seinen erwachsenen Sohn – vor ihrer eigenen Haustür. Der Angreifer, ihr Nachbar, attackiert die beiden mit einem Messer und einer Machete. Davor soll er sie rassistisch beleidigt haben. Beide Opfer müssen im Spital versorgt werden.
Zur Frage nach der Zivilcourage, wenn muslimische Personen diskriminiert oder angegriffen werden, schüttelt Ebnomer Taha konsterniert den Kopf: «Ich kenne keine Berichte von Zivilcourage, wenn so etwas passiert. In diesen Momenten spüren Betroffene die fehlende Solidarität. Das hängt damit zusammen, dass Muslime in der Schweiz als Fremde betrachtet werden.»
Der Stellenwert von Zivilcourage im Widerspruch
Auf den ersten Blick habe Zivilcourage in der Gesellschaft, in der wir leben, keinen zentralen Stellenwert mehr, sagt Johannes Ullrich, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Zürich. Er nennt zwei Gründe: «Einerseits ist unser gesellschaftliches Zusammenleben gesetzlich und institutionell stark reglementiert. Andererseits leben wir unterdessen ausgesprochen individualistisch.» Nach dem Motto: «Ich lasse den anderen machen, weil das ja sein gutes Recht ist.»
«Gerade deswegen kommt Zivilcourage aber auch eine neue Bedeutung zu», so Ullrich. Wenn wir im Bus oder Zug abgelenkt sind von unseren Smartphones, können uns Momente, in denen Zivilcourage angesagt wäre, schlicht entgehen – oder wir verstecken uns hinter unseren Handybildschirmen.
Minoritäten können nicht mit gleich viel Unterstützung aus der Zivilgesellschaft rechnen.
Im Beispiel von Ebnomer Taha, als eine muslimische Frau mit Kopftuch an einer Bushaltestelle vom Chauffeur rassistisch beleidigt und nicht mitgenommen wurde, habe niemand reagiert. In so einem Fall könnten sehr viele Faktoren mitspielen, die Dritte davon abhalten, sich zu engagieren, so Johannes Ullrich.
Das «Reservoir» für Zivilcourage schrumpft
Neben der zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft nennt der Professor für Sozialpsychologie weitere Punkte aus der Forschung zur Zivilcourage:
- Impulsives Helfen: Je akuter die Situation, desto eher helfen wir. «Wenn es um Leben oder Tod geht, sind wir alle Menschen. Dann helfen wir impulsiv und ohne zu überlegen», sagt Johannes Ullrich.
- Der «Bystander-Effekt»: Paradoxerweise wird weniger eingegriffen, wenn mehr Menschen einen Übergriff oder eine Attacke mitbekommen. Die Überzeugung, die anderen Umstehenden wären viel geeigneter, um einzugreifen, kann letztlich alle daran hindern, tatsächlich zu agieren.
- Der Faktor Identifikation: Wenn die Lage nicht ganz so akut ist, kann – bewusst oder unbewusst – eine elementare Frage darüber entscheiden, ob wir eingreifen oder nicht: «Identifiziere ich mich mit dem Opfer?»
Der dritte Punkt ist für Menschen, die einer Minderheit angehören, tragend: Je nach Erhebung hat jede vierte bis fünfte Person in der Schweiz Ressentiments gegenüber muslimischen und jüdischen Menschen.
Minoritäten könnten, wenn sie diskriminiert werden, nicht mit gleich viel Unterstützung aus der Zivilgesellschaft rechnen, sagt Johannes Ullrich. «Sei es, weil sie Schwarz sind, offen homosexuell leben, eine Kippa tragen oder ein Kopftuch: Für diese Menschen schrumpft das Reservoir an Zivilcourage aus der Gesellschaft.» Vor dem Hintergrund der gestiegenen antisemitisch und antimuslimisch motivierten Übergriffe sei das ein reales Problem.
Zivilcourage ist keine Heldensache
Es herrsche in den jüdischen und muslimischen Communitys in der Schweiz eine existenzielle Angst. So fasst Andi Geu die Stimmung der letzten Monate zusammen. «Die Anspannung ist so gross, wie ich sie in den über 20 Jahren meiner Tätigkeit nie erlebt habe.» Andi Geu ist Co-Geschäftsführer des National Coalition Building Institute (NCBI). Die Nichtregierungsorganisation engagiert sich für den interreligiösen Dialog, den Abbau von Vorurteilen und bietet auf offener Strasse Kurse für Zivilcourage an.
Der Fall in Zürich habe eindrücklich bewiesen, was zivilcouragiertes Verhalten bewirken kann, sagt Andi Geu. Er wolle Zivilcourage aber keineswegs verherrlichen: «Je nach Situation bringt man sich in Gefahr, wenn man sich einbringt. Es ist schon vorgekommen, dass Dritte, die sich einmischten, schwer verletzt wurden oder sogar gestorben sind.»
Ein Rezept für Zivilcourage gebe es nicht. Es lohne sich aber, sich einige Situationen zu vergegenwärtigen und gewisse Faustregeln zu kennen.
Zivilcourage: Welche Türen sind meine Türen?
Jonathan Kreutner vom SIG ist überzeugt: Zivilcourage funktioniere, wenn Situationen richtig gefährlich sind. Und doch wünscht er sich von der Zivilgesellschaft ein stärkeres Engagement: «Denken Sie nicht, dass es Sie nichts angeht, wenn jemand aufgrund eines äusseren Merkmals diskriminiert wird. Schauen Sie hin.»
Ebnomer Taha vom VIOZ ergänzt: «Ich wünsche mir, dass die Leute den Menschen sehen, den Mitbürger, wenn Muslime und Musliminnen in der Schweiz attackiert werden. Da ist kein Stellvertreter eines geopolitischen Konflikts. Da ist ein Mensch, der Hilfe braucht.»
Andi Geu zeichnet zum Schluss ein Bild: Zivilcourage als Haus mit vielen Türen. «Jede einzelne Person soll sich fragen: ‹Welche Türen stehen für mich offen? Und welche nicht?›.»
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