Seit dem Hamas-Massaker und dem Beginn des Gaza-Kriegs haben antisemitische Vorfälle in der Schweiz stark zugenommen. Diskutiert wird derzeit, ob Judenfeindlichkeit unter Musliminnen und Muslimen besonders verbreitet ist. Auftrieb erhält die Debatte durch das Attentat in Zürich vor zehn Tagen: Dort stach ein Teenager einen orthodoxen Juden auf offener Strasse nieder. Kurz darauf tauchte ein Video auf, in dem sich der 15-Jährige zur Terrororganisation IS bekannte.
Muslimische Organisationen haben den Angriff umgehend verurteilt. So auch die Föderation islamischer Dachorganisationen Schweiz (FIDS). Sie vertritt rund 240 islamische Zentren und Vereine in der Schweiz. Doch wie geht die Organisation mit Judenfeindlichkeit in ihren eigenen Reihen um? «Wir haben antisemitische Äusserungen nie toleriert», sagt FIDS-Präsident Önder Günes. «Wir kämpfen dagegen an, indem wir das Thema in der Moschee oder auch bei anderen Zusammenkünften ansprechen.»
Vermischung von Religion und Politik
Die FIDS setze auf Dialog mit Mitgliedern, um sie von antisemitischen Weltbildern abzubringen, erklärt ihr Präsident. «Viel wird vom Konflikt im Nahen Osten beeinflusst. Die kriegerischen Auseinandersetzungen werden mit antisemitischen Äusserungen vergolten.» Dies lasse sich vornehmlich bei jüngeren Mitgliedern feststellen: Sie würden in manchen Fällen nicht zwischen Kriegshandlungen, die nicht unbedingt religiös begründet seien, und einem eigentlichen Religionskonflikt unterscheiden. «Diese Dinge werden vermischt – und dagegen kämpfen wir an», sagt Günes.
Amir Dziri ist Direktor des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft (SZIG) an der Uni Freiburg. Der Professor für Islamische Studien forscht dort auch zum Thema Antisemitismus unter Muslimen. Für ihn ist klar: Der Kampf gegen Antisemitismus muss als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet werden. Gleichzeitig müssten aber auch spezielle Kontexte und Hintergründe berücksichtigt werden. «Und hier lässt sich eine gewisse Unterschätzung des Problems aufseiten von muslimischen Gemeinschaften feststellen», sagt Dziri.
Was im Gewand religiöser Legitimität daherkommt, ist tatsächlich eine klare politische Instrumentalisierung.
Es sei zwar glaubhaft, wenn muslimische Gemeinden erklären würden, sie hätten einen Angriff wie in Zürich für unmöglich gehalten. Letztlich sei der Einfluss von Moscheegemeinden aber begrenzt, so der Forscher. «Denn Radikalisierungen ereignen sich oft ausserhalb der muslimischen Gemeinschaften.» Antisemitische Narrative könnten aber durchaus auch von Einzelpersonen in Moscheen hineingetragen werden – und hier brauche es ein Problembewusstsein und Wachsamkeit.
Oft würden sich auch antisemitische Narrative aus dem arabischen Raum, die im 20. Jahrhundert entstanden, mit dem quasi «althergebrachten» Antisemitismus aus Europa verbinden, der viel weiter in die Geschichte zurückreicht. Abschliessend macht auch Dziri darauf aufmerksam, dass sich Politik und Religion auf gefährliche Weise vermischen können – gerade wenn es um Nahost geht. «Was im Gewand religiöser Legitimität daherkommt, ist tatsächlich eine klare politische Instrumentalisierung.»