Zum Inhalt springen

Ian McEwan im Gespräch «Fast jedes unserer Probleme geht auf unsere Intelligenz zurück»

Was macht das Leben lebenswert? Der britische Erfolgsautor Ian McEwan muss es wissen: Er leuchtet in seinen Romanen die Abgründe menschlichen Lebens und Liebens schonungslos aus.

Ian McEwan

Autor

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Ian McEwan (geb. 1948) ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller und kritischsten Denker unserer Zeit. Seine 17 Romane erhielten zahlreiche Preise, unter anderem den Booker-Preis. Viele wurden mit Starbesetzung verfilmt. Sein Erfolgsroman «Atonement» ist gerade am Opernhaus Zürich als Ballett inszeniert zu sehen.

SRF: Verraten Sie uns etwas über den Stoff Ihres neusten Buchs?

Ian McEwan: Es ist Science-Fiction, aber ohne die Wissenschaft. Ein Teil spielt im 25. Jahrhundert, aus dem jemand zurückblickt und versucht zu verstehen, wie es war, heute zu leben. Es ist ein Blick voller Entsetzen über alles, das wir versäumt haben. Aber auch voller Nostalgie für die intellektuelle Energie dieser Zeit. Wir leben in den schlimmsten, aber auch in den interessanteste aller Zeiten.

Warum?

Da sind diese wahnsinnigen Kriege, das Aufkommen des Nationalismus. Wir werden durch die Entwicklung der künstlichen Intelligenz herausgefordert. Wir schaffen vielleicht Entitäten, die intelligenter sind als wir. Das ist aufregend und erschreckend.

Porträt eines älteren Mannes mit Brille vor unscharfem grünen Hintergrund
Legende: Autor mit grosser Reichweite: Ian McEwans Roman «Abbitte» wird derzeit als Ballett am Opernhaus Zürich aufgeführt. Getty Images / David Levenson

Sie lieben die Technologie, die teilweise zum Fluch für uns wird. Ist das nicht schmerzhaft?

Wir haben mit unserer Schlauheit eine Art faustischen Pakt geschlossen. Nahezu jedes Problem, das wir haben, geht auf unsere eigene Intelligenz zurück.

Die Lektionen des Lebens lassen sich nicht auf ein paar Sätze reduzieren.

Als wir entdeckten, dass wir Kohle verbrennen und so eine Dampfmaschine antreiben können, begaben wir uns auf eine neue Reise. Wer anfängt, Muskeln zu ersetzten, wird als nächstes das Gehirn ersetzen.

Am Ende Ihres letzten Romans «Lektionen» sagt der Protagonist Roland Baines, das Leben hätte ihn gar nichts gelehrt. Ist das Ihr Bild des Lebens?

Die Lektionen des Lebens lassen sich nicht auf ein paar Sätze reduzieren. Sie stecken in der gefühlten Erfahrung. Eines der schrecklichsten Wörter im Englischen ist «Closure», der Moment, wenn alles überwunden ist. Das gibt es nur in Filmen oder Romanen. Im wirklichen Leben häufen sich die Narben und die Last der Dinge. Uns bleibt nichts weiter übrig, als sie zu ertragen.

Zum Beispiel Schuldgefühle, wie in Ihrem bekanntesten Werk «Abbitte». Die Protagonistin Briony zerstört darin das Leben ihrer Schwester.

Das tut sie. Aber sie rehabilitiert sich, indem sie ein geprüftes Leben führt: Sie verbringt ihr Leben damit, über ihre Tat nachzudenken. Dann versucht sie, mithilfe von Fiktion alles wieder in Ordnung zu bringen.

Glück findet sich auch im Schneiden einer Zwiebel fürs Abendessen.

Man kann Schuld nie auslöschen. Aber wir haben ein Bewusstsein, mit dem wir unser Leben prüfen können. Das mag schmerzhaft sein, aber es macht das Leben bedeutsam.

Was ist die Quintessenz eines Lebens?

Sinn ergibt sich aus unserem Tun, egal ob wir Tennisspieler sind oder Köchin. Es gibt bestimmte Momente, denen wir nicht genügend Aufmerksamkeit schenken, dabei gehören sie zu den Hauptquellen des Glücks: Wenn man in etwas so vertieft ist, dass man aufhört, zu existieren. Ähnlich dem Verliebtsein oder Sex.

Momente der Leidenschaft?

Nicht nur. Sie finden sich auch im Schneiden einer Zwiebel fürs Abendessen – in den flüchtigsten Dingen.

Das Leben ist flüchtig. Ist es nicht furchtbar traurig, es ziehen zu lassen, weil es auch von unfassbarer Schönheit ist?

Es ist wunderschön. Gleichzeitig, wenn man mich fragt, warum all diese Abgründe in meinen Romanen vorkommen, sage ich: Weil es diese dunklen Seiten gibt. Wir sind Meister des Abspaltens: Wir können bei köstlichem Essen sitzen im Wissen, dass in der Ukraine Krieg herrscht, dass das Klima unsere volle Aufmerksamkeit braucht – und wir geben sie nicht. Vielleicht bewahrt uns die Fähigkeit, uns abzugrenzen, auch davor, völlig verrückt zu werden.

Das Gespräch ist eine verkürzte Fassung der Sternstunde Philosophie und wurde von Barbara Bleisch geführt.

Die Kultur-Highlights der Woche im Newsletter

Box aufklappen Box zuklappen

Entdecken Sie Inspirationen, Geschichten und Trouvaillen aus der Welt der Kultur: jeden Sonntag, direkt in Ihr Postfach. Newsletter jetzt abonnieren .

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 12.05.2024, 11:00 Uhr.

Meistgelesene Artikel