Geschichtsmanipulation und Mythenbildung laufen in Russland auf Hochtouren. Als letzte Institution, die sich mit den Repressionen unter Stalin beschäftigt, wurde im November vergangenen Jahres das Moskauer Gulag-Museum aus «Brandschutzgründen» geschlossen und wird dem Moskauer Stadtmuseum zugeschlagen.
Mitte Januar folgte die Entlassung des Museumsdirektors Roman Romanow. Er hatte sich geweigert, in einer Schau über das sowjetische Moskau den Ausstellungspart über den Terror unter Stalin zu entfernen. Damit war sein Aus besiegelt.
Die neue Direktorin ist Anna Trapkowa – sie hatte sich empfohlen, weil sie die Stalin-Zeit in dem von ihr geleiteten Moskau-Museum allein anhand von Möbeln und sowjetischem Design darstellt. Aber war da nicht noch etwas? Stalins Mordmaschine? Russische Künstler versuchen unterdessen, der Relativierung und Verschleierung der Verbrechen unter Stalin entgegenzuwirken.
Ausradiert aus der Geschichte
«Pakt des Schweigens» heisst eine Multimediaarbeit des Moskauer Konzeptkünstler Mikhail Tolmachev – er lebt inzwischen in Leipzig. Die Installation dreht sich um ein Fotoalbum aus dem ersten Gulag der noch jungen Sowjetunion auf den Solowezki-Inseln. Es ist voller Leerstellen, denn später wurden Personen auf einigen Fotos ausgeschnitten oder ganze Bilder wieder herausgerissen.
Sind keine Fotos da, gibt es keine Forschung.
Auf den verbliebenen Schwarz-Weiss-Aufnahmen sind Menschen bei der Arbeit und in ihrer Freizeit zu sehen. Die einen sind Zwangsarbeiter, die anderen Lageraufseher, Offiziere des Geheimdienstes. Bis heute kennt niemand ihre Namen. Mehr noch, bei seiner Arbeit mit Fotografien aus dem Gulag stiess Mikhail Tolmachev auf massiven Widerstand von Museen und Archiven.
«Sind keine Fotos da, gibt es keine Forschung. Das ist die Logik, mit der nicht erst seit heute Geschichtspolitik gemacht wird», klagt der Künstler und erklärt, dass er sich für diese Leerstelle in der Geschichte mitsamt ihrer grossen Wirkmächtigkeit interessiere.
Eiserne Kulturmanagement-Programme
Der Pakt des Schweigens wird unterdessen aufgerüstet: Im letzten Jahr wurde ein Kulturmanagement-Programm ins Leben gerufen, das die sogenannten «russischen Werte» bei Kulturkadern vertiefen soll. Verantwortlich für den Input ist der rechtsradikale Schriftsteller und Propagandist Sachar Prilepin.
In Nischni Nowgorod hat er ein militärisches und ideologisches Trainingslager gegründet. Der Name «Stal», also «Stahl» ist Programm: Teilnehmer üben den Angriff, den Umgang mit Drohnen und wie man Erste Hilfe leistet.
Anna Trapkowa, die Direktorin des Moskau-Museums und jetzt auch des Gulag-Museums, ist Absolventin des Kurses. Kriegsmaschine und Kultur ziehen unverhohlen an einem Strang.
Konfrontation mit den Fakten
Mikhail Tolmachev indes will dagegenhalten und retten, was zu retten ist. Damit die Geschichte nicht ausser Sichtweite gerät, hat er nahezu 1000 Fotografien aus dem Gulag in einem Katalog zusammengetragen.
«White Sea Colours» ist der Titel der Publikation, der sich auf die Solowezki-Inseln im Weissen Meer bezieht, von wo aus der «Archipel Gulag» seinen Anfang genommen hat.
Noch in diesem Jahr will Mikhail Tolmachev die Fotografien auch in einem Online-Archiv der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. In der Hoffnung, dass sie damit endgültig erschlossen werden – mitsamt den Namen der auf den Fotos abgebildeten Täter.