«Wie willst du wissen, dass es noch etwas anderes gibt, wenn es dir nicht beigebracht wird?» Ein Satz, der die Soziologin und Journalistin Christina Caprez nicht loslässt. Er stammt von der 17-jährigen Christelle, die Caprez in ihrem neuen Buch «Queer Kids» porträtiert hat.
Darin erzählen 14 weitere junge queere Menschen, wie es ist, anders zu sein – wenn Eltern oder Lehrpersonen nicht akzeptieren, wen sie lieben, oder wenn sie sich mit einem anderen Geschlecht identifizieren. «Was mich am meisten schockiert hat, ist die Häufigkeit, mit der die Jugendlichen mit Mobbing konfrontiert sind», sagt Caprez. Krasse Formen von Mobbing seien bei vielen der Auslöser für psychische Krisen, von Depressionen bis hin zu Suizidversuchen.
So fühlt sich Anderssein an
Gleichzeitig ermöglichen die jungen Leute mit ihren unterschiedlichen Perspektiven und Lebensentwürfen eine authentische Darstellung der Realität junger queerer Menschen in der Schweiz. Dazu gehören auch schöne und bestärkende Momente. Corsin (17) gründete beispielsweise vor eineinhalb Jahren den Queer Point Uri in Altdorf. In vielen ländlich geprägten Kantonen gibt es bisher keinen solchen Treff.
«Am meisten beeindruckt hat mich eigentlich, wie diese Kinder und Jugendlichen sich selbst reflektieren und über die Gesellschaft nachdenken», sagt Caprez. Die Autorin vermutet, dass die «Queer Kids» durch ihr Queersein bereits früh merken, dass sie anders sind und dadurch in einen Reflexionsprozess hineingehen.
So auch Lia, ein zehnjähriges trans Mädchen. Sie sagte zu Caprez: «Wenn man anders ist, hat man manchmal auch Angst, dass Leute, die man gern hat, einen plötzlich doof finden.» Es sind Aussagen, die Caprez berühren. In ihrem Buch spürt sie unter anderem die Gründe auf, warum Kinder wie Lia sich bereits solche Sorgen machen.
Leben in einer heteronormativen Gesellschaft
Keinem heteronormativen Weltbild entsprechen: Das sei nach wie vor ein Motiv für Anfeindungen und Ausgrenzung von queeren Menschen. Diese Annahme untermauert Psycholog:in Ad. Ott in «Queer Kids». Hinter Heteronormativität stehe die Idee, dass es nur zwei Geschlechter gebe und dass sich Männer normalerweise in Frauen verlieben und umgekehrt.
Doch Queerness ist sichtbarer denn je. Laut einer repräsentativen Jugendbefragung von 2021 im Kanton Zürich bezeichneten sich 26 Prozent der Neuntklässlerinnen als nicht oder nicht ausschliesslich heterosexuell. 2014 waren es noch 7,4 Prozent. Eine grössere Offenheit in der Gesellschaft ermögliche es vielen Jugendlichen genauer zu erforschen und zu benennen, wie sie sich ausdrücken wollen, sagt Ad. Ott.
Christina Caprez betont hierbei die Wichtigkeit von TikTok und Co. «Eigentlich nahezu alle Jugendlichen entdecken dieses Thema oder finden Informationen dazu auf Social Media.» Gleichzeitig beunruhige sie, dass Eltern durch die sozialen Medien Queersein als kurzweiligen Trend betrachten könnten.
«Viele Erwachsene denken, dieses Thema ist im Moment omnipräsent in den Medien», sagt Caprez, «Aber zu Hause am Familientisch und in den Schulen ist es eben nicht präsent.» Viele Jugendlichen bekämen Antworten auf ihre Fragen in den sozialen Medien. Einige sorgten sich jedoch, dass Erwachsene deswegen ihre Identitätssuche als Trend abtun und nicht ernst nehmen könnten.
Caprez empfiehlt Eltern, offenzubleiben: «Dem Kind signalisieren: Ich unterstütze dich und ich möchte dazulernen.»