«Ich bin entsetzt über Putins Lügen», sagt der 75-jährige Manfred Hildermeier, emeritierter Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Göttingen. Etwa über die, dass der Westen den Krieg in der Ukraine begonnen habe: «Solche Behauptungen haben keinerlei Bezug zur Wirklichkeit.»
Ein Leben für die russische Geschichte
Der Göttinger Professor hat fast sein gesamtes Historiker-Leben Russland gewidmet. Die Zeit des Umbaus und der Modernisierung, die Perestrojka, unter Gorbatschow verband er mit grossen Hoffnungen – wie viele andere damals.
Hildermeier war Mitglied verschiedener Kommissionen, wo er den Austausch mit russischen Historikerinnen und Historikern pflegte. Zudem schrieb er mehrere Standardwerke zur russischen und sowjetischen Geschichte.
«Ich bereue heute nichts von alledem», betont Manfred Hildermeier. Und das, obwohl seit Putins Angriffskrieg die Kontakte zur russischen Historikerzunft zum Stillstand gekommen sind und die Vorstellung, als Historiker zwischen Ost und West Brücken zu bauen, heute wie aus einer anderen Welt klingt.
Kaum hörbare Kritik
Hildermeier ist überzeugt, dass es auch im heutigen Russland viele Menschen gibt, die westlich-liberal denken. Dass sie kaum hörbar sind, liege zum einen an der Kontrolle der Medien durch Putin, der den in Russland seit jeher den in Russland bestehenden Nationalismus befeuert und die Aggression gegen die Ukraine als patriotische Grosstat hinstellt.
Zum anderen habe sich in der russischen Geschichte nie eine Zivilgesellschaft ausprägen können, in der unterschiedliche politische Meinungen geordnet in einen Wettstreit treten können.
«Eine Mobilisierung gegen den Krieg kann nicht auf derartige Keime zurückgreifen», sagt Hildermeier. So gesehen seien die erschreckend hohen Zustimmungswerte in Russland für Putin «wenig erstaunlich».
Ambivalenter Blick nach Westen
Der Professor ist um differenzierte Erklärungen bemüht. Auch in seinem neusten Buch «Die rückständige Grossmacht: Russland und der Westen». Darin weist der Osteuropa-Historiker nach, dass der Westen für Russland während seiner 1000-jährigen Geschichte stets sowohl Vor- als auch Feindbild war, wobei sich die beiden Wahrnehmungen abwechselten und bisweilen auch überlagerten.
Zu Beginn, im ersten russischen Staat, der Kiever Rus’ ab dem 9. Jahrhundert, waren die Verbindungen zwischen Russland und dem Westen gemäss Hildermeier «intensiv». Trennend wirkte jedoch die Kirchenspaltung im 11. Jahrhundert: Die westlich-lateinische Kirche und die orthodoxe Ostkirche zerstritten sich. Die Kontakte wurden weniger.
Verordnete Verwestlichung
Mit dem «Reform-Zar» Peter dem Grossen setzte zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein fundamentaler Umschwung ein. Peters Ziel war es, sein rückständiges Imperium nach dem Vorbild des Westens zu modernisieren und es in einen Teil des europäischen Macht- und Wirtschaftsraums zu verwandeln.
Allerdings blieb diese mit staatlicher Gewalt durchgedrückte Öffnung zum Westen nicht ohne Widerspruch. Denn im 19. Jahrhundert, als sich in ganz Europa Nationalstaaten bildeten, gewannen in Russland jene Kräfte an Einfluss, die betonten, dass Russland «Besonderes hervorgebracht» habe – in der Kultur, in Sprache und Literatur, im politischen System.
Nach den Revolutionen 1917 als Lenin und seine Anhänger, die Bolschewiki, die Macht ergriffen, begriff sich Russland als Gegenmodell zum kapitalistischen Westen. Doch der Bruch war laut Manfred Hildermeier weniger tiefgreifend, als dies die Propaganda in Ost und West glauben machen wollte.
Lenin und seinen Nachfolgern sei sehr wohl bewusst gewesen, dass Russland nicht in der Lage sein würde, «technisch auf das Niveau zu kommen, um als erster sozialistischer Staat der Welt ein Vorbild zu sein».
Ob Lenin, Stalin oder später auch Breschnew: Sie alle seien bestrebt gewesen, «das technische und industrielle Knowhow des Westens in den sozialistischen Staat zu importieren». Allerdings ohne gleichzeitig den Kapitalismus zu übernehmen.
Technik des Westens
Tatsächlich spielte die westliche Technik eine zentrale Rolle, als etwa Stalin in der Sowjetunion gigantische Staudämme und Kanäle erbauen liess oder als das Land Hitlers Invasion abwehren musste. «Die Sowjetunion setzte sich zwar in den Gegensatz zum Westen, eiferte ihm jedoch in entscheidenden Bereichen stets auch nach», sagt Hildermeier.
Als die Sowjetunion 1991 zusammenbrach, versuchte Russland mittels umfassender wirtschaftlicher und politischer Reformen, Teil der europäischen Staatenwelt zu werden. Ein Vorhaben, das dramatisch Schiffbruch erlitt.
Der radikale Umbau ohne soziale Abfederung zerstörte nicht nur die Wirtschaft, sondern liess auch das russische Volk in Armut versinken. «Der Export eines rein marktwirtschaftlich-liberalen Wirtschaftssystems nach Russland war unbedacht», urteilt Manfred Hildermeier. Auch amerikanische Ökonomen wirkten damals mit – und «stehen für die katastrophalen Folgen in der Verantwortung».
Putins Aufstieg
Die enormen sozialen Kosten des Radikalumbaus machte sich Putin politisch zunutze: Er sorgte für Stabilität und steigenden Wohlstand und stieg zum autoritären Staatschef auf.
In der Propaganda spielte er die nationalistische Karte und postulierte ein Russland, das sich vom angeblich «dekadenten Westen» abhebt und dem als «expansiv» bezeichneten Militärbündnis, der Nato, die Stirn bieten müsse, um die Eigenart zu bewahren.
Putin gelang es jedoch nie, jenes Grundproblem zu beheben, welches das Riesenreich in seiner Geschichte immer wieder zur Kooperation mit dem Westen gezwungen hatte: die wirtschaftlich-technologische Rückständigkeit.
Putins Hasstiraden gegen Europa, die USA und die Nato zeigen demnach nur eine Seite der zwiespältigen Beziehung, die Russlands Verhältnis zum Westen noch immer charakterisiert.
Sanktionen wirken lassen
Denn im wortgewaltigen Getöse geht häufig unter, dass Russland vom vermeintlichen Feind in wichtigen Bereichen noch immer abhängig ist und laut Manfred Hildermeier gut daran täte, mit ihm zu kooperieren, um den Anschluss nicht zu verlieren.
Vor diesem Hintergrund sind laut Manfred Hildermeier die westlichen Sanktionen das richtige Mittel, um der Krise zu begegnen. Er ist überzeugt: «Sie werden wirken.»
Wenn das Loch in der Staatskasse immer grösser werde und der technische Nachschub für die russische Industrie ausbleibe, führe dies in der russischen Elite «zu einem Umdenken». Denn der Krieg müsse beendet werden, wenn Russland vor dem wirtschaftlichen Absturz zu bewahrt bleiben soll.
Der Blick in die Geschichte zeige, dass sich Russland immer wieder auch kooperativ zeigte. «Das Rad wird sich auch jetzt wieder in die andere Richtung drehen», ist Manfred Hildermeier überzeugt. Wann dies allerdings genau sein wird, «kann niemand wissen».