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Wie gelingt Aufarbeitung? Eine Betroffene erzählt
Aus Kontext vom 06.09.2024. Bild: KEYSTONE/DPA/Julian Stratenschulte
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Sexuelle Gewalt in der Kirche Ein Jahr nach dem Missbrauchsskandal zeigen sich erste Resultate

Es war ein Knall, als vor einem Jahr die Pilotstudie zu sexueller Gewalt in der römisch-katholischen Kirche veröffentlicht wurde: Über 1000 Missbrauchsfälle konnten belegt werden. Seither hat die katholische Kirche einiges vorangetrieben – doch beim Kulturwandel harzt es.

Aus heutiger Sicht markiere die Publikation der Pilotstudie am 12. September 2023 eine Zäsur, findet Vreni Peterer. Sie ist Präsidentin der IG Missbrauch im kirchlichen Umfeld, kurz IG M!kU: «Ab da konnte man erwarten, dass die Kirche vorwärtsmacht mit allem, was sie bereits versprochen hatte.»

Frau spricht in ein Mikrofon, während sie an einem Tisch sitzt.
Legende: «Die Betroffenen glauben den Verantwortlichen nicht mehr», sagt Vreni Peterer, Stimme der Opfer und Präsidentin der IG Missbrauch im kirchlichen Umfeld. Keystone / Ennio Leanza

Versprochen wurde zum Beispiel die kirchenunabhängige Anlauf- und Meldestelle. Seit langem fordern Betroffene, dass es diese geben soll. Doch die Kirche vertröstete und hielt die Betroffenen hin oder verwies sie an die Bistums-eigenen Fachgremien.

Diözesane Fachgremien

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Mit der Gründung von Fachgremien und anderen ersten Massnahmen reagierte die römisch-katholische Schweiz anfangs der 2000er-Jahre auf die internationalen Missbrauchsskandale. Bis heute sind sie für Betroffene eine wichtige kirchliche Anlaufstelle. In der Regel bestehen sie aus Vertretern der Kirche und unabhängigen Fachpersonen aus der Psychologie, Medizin oder aus dem Rechtsbereich.

Das Bistum St. Gallen setzte 2002 als erstes der sechs Bistümer ein eigenes Fachgremium ein. Bis heute unterscheiden sich Strukturen und der Professionalitätsgrad teilweise sehr. 

Ihre Gründungen waren wichtig: In vielen Fällen meldeten sich Betroffene erst dann bei den Bistümern: Gemäss der Pilotstudie der Uni Zürich wurden 65 Prozent aller ausgewerteten Fälle nach 2002 gemeldet, obwohl 4/5 der Fälle davor passierten.

Nun also soll es eine solche Stelle geben, wobei die Melde- und Opferanlaufstelle separat organisiert sein werden. Die Bischöfe und Kirchenverantwortlichen haben diese auf Anfang 2025 versprochen. Das ist spät, für manche der Betroffenen zu spät.

Manches geht voran, anderes dauert

Joseph Maria Bonnemain, Bischof von Chur und fürs Thema sexueller Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche Schweiz seit Jahren zuständig, versteht die Ungeduld der Betroffenen. «Dennoch wollen wir Massnahmen zustande bringen, die wirklich tragen und eine echte Hilfe für Betroffene sind. Das braucht Zeit», gibt er gegenüber SRF zu bedenken.

Zeit braucht es auch, weil die Schweizer Bischofskonferenz mit den Landeskirchen und dem Dachverband der Ordensgemeinschaften zusammenarbeitet. Da treffen unterschiedliche Strukturen, Kulturen oder finanzielle Möglichkeiten aufeinander. Nicht immer einfach.

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Zwischenbilanz: Ein Jahr nach Missbrauchsskandal in der Kirche
Aus 10 vor 10 vom 06.09.2024.
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Auch andere Massnahmen sollen per 2025 umgesetzt sein, etwa ein professionalisiertes Personalwesen. So können und müssen zum Beispiel alle Angaben eines kirchlichen Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin beim Stellenwechsel weitergegeben werden.

Wie der Blick in die Vergangenheit zeigt, wurden in der römisch-katholischen Kirche Täter oft dadurch geschützt, dass sie in ein anderes Bistum versetzt wurden. Informationen rund um fehlbare Handlungen hat man dabei nicht an die neue Kirchgemeinde übermittelt.

Ich weiss von Betroffenen, die sich immer noch nicht ernst genommen fühlen.
Autor: Vreni Peterer Präsidentin der IG Missbrauch im kirchlichen Umfeld

Als weitere Massnahme arbeiten die Schweizerische Bischofskonferenz zusammen mit der römisch-katholischen Landeskirche und der Vereinigung der Ordensgemeinschaften an psychologischen Aufnahmetests für künftige Angestellte. Ebenso hatten die drei Organisationen versprochen, keine Akten mehr zu vernichten. Das wird bereits umgesetzt.

Beim Kulturwandel harzt es

In Sachen nationales kirchliches Straf- und Disziplinargericht wird es wohl noch etwas dauern. Vorgesehen ist, dass diesen Herbst ein Konzept vorgestellt und intern diskutiert wird. Sodann bräuchte es eine Genehmigung von Rom. Die Bischöfe Gmür und Bonnemain hatten mit Papst Franziskus im Frühling 2024 bereits Gespräche dazu geführt.

Versprochen wurde auch ein Kulturwandel. Der braucht Zeit, wissen sowohl Bischof Joseph Bonnemain als auch Vreni Peterer. Zwar stelle sie fest, dass es im kleinen, persönlichen Austausch Veränderungen gegeben hat.

Zum Beispiel würde seit dem 12. September 2023 empathischer mit Betroffenen gesprochen werden: «Ich war kürzlich bei einer Anhörung mit einem Kirchenrichter dabei. Das Gespräch war, wie man es sich wünscht: achtsam, ruhig und entsprechend der Geschichte auch lang.»

Ein Kulturwandel muss in den Herzen der Menschen passieren. Ich kann das nicht erzwingen.
Autor: Joseph Bonnemain Bischof von Chur

Vreni Peterer ist in Sachen Kulturwandel im Allgemeinen aber skeptisch: «Ich weiss von Betroffenen, die sich immer noch nicht ernst genommen fühlen, wenn sie sich mit ihrer Geschichte melden», weiss Peterer. «Oder sie müssen über ein halbes Jahr warten, bis ihre Meldung bestätigt wird. Da erwarte ich schon massive Verbesserungen.» Vieles sei personenabhängig, der Kulturwandel noch nicht institutionell verankert, stellt Peterer fest.

«Es muss in den Herzen der Menschen passieren, ich kann das nicht erzwingen oder verordnen», gibt Joseph Bonnemain zu bedenken. «Es geht um Überzeugung und Motivation, damit auch die einzelnen diesen Kulturwandel nachvollziehen.»

Kirchenaustritte nahmen stark zu

Die Glaubwürdigkeit der Kirche hat durch die Publikation der Pilotstudie und den darauffolgenden Diskussionen oder neu aufgedeckten Fälle gelitten: Allein im Kanton Zürich sind im Jahr 2023 knapp 14'000 Menschen aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten, doppelt so viele wie 2022. Mehr als die Hälfte davon gab ihren Rücktritt, nachdem die Missbrauchsstudie letzten Herbst publiziert wurde.

Menschen sitzen hinten in einer Kirche.
Legende: Vertrauen, das verloren gegangen ist, und Veränderungen, die auf sich warten lassen: sind das die Gründe für die vielen Austritte aus der römisch-katholischen Kirche? Keystone / Alessandro Della Bella

Aus der Vergangenheit und mit Blick ins nahe Ausland sind solche Mechanismen bekannt. Auch, dass bei der evangelischen Kirche Menschen austreten.

Darüber hinaus ist auch bekannt: Die breite Berichterstattung fördert bei Betroffenen, die bisher über ihre Geschichte geschwiegen haben, den Mut, sich zu melden. Seit letztem Herbst haben sich allein bei den Bischöfen mehr als 180 Menschen gemeldet. Bei der IG M!kU waren es knapp 60. Und auch die Historikerinnen und Historiker der Uni Zürich sind mit Betroffenen und anderen Zeitzeugen im Gespräch.

Für die laufende Hauptstudie wird die Forschung in den Archiven denn auch mit Ansätzen der Oral History ergänzt. Das kann helfen, der vermutlich hohen Dunkelziffer besser auf die Spur zu kommen. Also dass Fälle gefunden werden, die nicht in den Akten belegt sind. Das Forschungsprojekt, das wie die Pilotstudie von der römisch-katholischen Kirche in Auftrag gegeben wurde, läuft noch bis 2027.

Aufarbeitung sexualisierter Gewalt bei den Reformierten

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Auch die Reformierten müssten die sexualisierte Gewalt im kirchlichen Umfeld aufarbeiten. Das kündigte Rita Famos, Präsidentin des Evangelischen Kirche Schweiz EKS, Ende 2023 bei SRF an. Lange sahen die Reformierten sexuelle Gewalt als römisch-katholisches Problem an. Wie notwendig aber eine Aufarbeitung ist, zeigte anfangs 2024 eine Studie aus Deutschland. Sie sprach von einem grösseren Ausmass im evangelischen Umfeld als bisher angenommen wurde.

Im Juni 2024 lehnte das nationale Kirchenparlament den Vorschlag des EKS-Rates für eine Studie allerdings ab. Die Mehrheit des Kirchenparlaments war mit dem Studiendesign nicht einverstanden, einer Dunkelfeldstudie in der Gesamtgesellschaft. Zudem wurde kritisiert, der Rat habe die Kantonalkirchen zu wenig eingebunden. Der EKS-Rat arbeitet derzeit ein neues Studiendesign aus.

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Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 6.9.2024, 09:03 Uhr.

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