Aus heutiger Sicht markiere die Publikation der Pilotstudie am 12. September 2023 eine Zäsur, findet Vreni Peterer. Sie ist Präsidentin der IG Missbrauch im kirchlichen Umfeld, kurz IG M!kU: «Ab da konnte man erwarten, dass die Kirche vorwärtsmacht mit allem, was sie bereits versprochen hatte.»
Versprochen wurde zum Beispiel die kirchenunabhängige Anlauf- und Meldestelle. Seit langem fordern Betroffene, dass es diese geben soll. Doch die Kirche vertröstete und hielt die Betroffenen hin oder verwies sie an die Bistums-eigenen Fachgremien.
Nun also soll es eine solche Stelle geben, wobei die Melde- und Opferanlaufstelle separat organisiert sein werden. Die Bischöfe und Kirchenverantwortlichen haben diese auf Anfang 2025 versprochen. Das ist spät, für manche der Betroffenen zu spät.
Manches geht voran, anderes dauert
Joseph Maria Bonnemain, Bischof von Chur und fürs Thema sexueller Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche Schweiz seit Jahren zuständig, versteht die Ungeduld der Betroffenen. «Dennoch wollen wir Massnahmen zustande bringen, die wirklich tragen und eine echte Hilfe für Betroffene sind. Das braucht Zeit», gibt er gegenüber SRF zu bedenken.
Zeit braucht es auch, weil die Schweizer Bischofskonferenz mit den Landeskirchen und dem Dachverband der Ordensgemeinschaften zusammenarbeitet. Da treffen unterschiedliche Strukturen, Kulturen oder finanzielle Möglichkeiten aufeinander. Nicht immer einfach.
Auch andere Massnahmen sollen per 2025 umgesetzt sein, etwa ein professionalisiertes Personalwesen. So können und müssen zum Beispiel alle Angaben eines kirchlichen Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin beim Stellenwechsel weitergegeben werden.
Wie der Blick in die Vergangenheit zeigt, wurden in der römisch-katholischen Kirche Täter oft dadurch geschützt, dass sie in ein anderes Bistum versetzt wurden. Informationen rund um fehlbare Handlungen hat man dabei nicht an die neue Kirchgemeinde übermittelt.
Ich weiss von Betroffenen, die sich immer noch nicht ernst genommen fühlen.
Als weitere Massnahme arbeiten die Schweizerische Bischofskonferenz zusammen mit der römisch-katholischen Landeskirche und der Vereinigung der Ordensgemeinschaften an psychologischen Aufnahmetests für künftige Angestellte. Ebenso hatten die drei Organisationen versprochen, keine Akten mehr zu vernichten. Das wird bereits umgesetzt.
Beim Kulturwandel harzt es
In Sachen nationales kirchliches Straf- und Disziplinargericht wird es wohl noch etwas dauern. Vorgesehen ist, dass diesen Herbst ein Konzept vorgestellt und intern diskutiert wird. Sodann bräuchte es eine Genehmigung von Rom. Die Bischöfe Gmür und Bonnemain hatten mit Papst Franziskus im Frühling 2024 bereits Gespräche dazu geführt.
Versprochen wurde auch ein Kulturwandel. Der braucht Zeit, wissen sowohl Bischof Joseph Bonnemain als auch Vreni Peterer. Zwar stelle sie fest, dass es im kleinen, persönlichen Austausch Veränderungen gegeben hat.
Zum Beispiel würde seit dem 12. September 2023 empathischer mit Betroffenen gesprochen werden: «Ich war kürzlich bei einer Anhörung mit einem Kirchenrichter dabei. Das Gespräch war, wie man es sich wünscht: achtsam, ruhig und entsprechend der Geschichte auch lang.»
Ein Kulturwandel muss in den Herzen der Menschen passieren. Ich kann das nicht erzwingen.
Vreni Peterer ist in Sachen Kulturwandel im Allgemeinen aber skeptisch: «Ich weiss von Betroffenen, die sich immer noch nicht ernst genommen fühlen, wenn sie sich mit ihrer Geschichte melden», weiss Peterer. «Oder sie müssen über ein halbes Jahr warten, bis ihre Meldung bestätigt wird. Da erwarte ich schon massive Verbesserungen.» Vieles sei personenabhängig, der Kulturwandel noch nicht institutionell verankert, stellt Peterer fest.
«Es muss in den Herzen der Menschen passieren, ich kann das nicht erzwingen oder verordnen», gibt Joseph Bonnemain zu bedenken. «Es geht um Überzeugung und Motivation, damit auch die einzelnen diesen Kulturwandel nachvollziehen.»
Kirchenaustritte nahmen stark zu
Die Glaubwürdigkeit der Kirche hat durch die Publikation der Pilotstudie und den darauffolgenden Diskussionen oder neu aufgedeckten Fälle gelitten: Allein im Kanton Zürich sind im Jahr 2023 knapp 14'000 Menschen aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten, doppelt so viele wie 2022. Mehr als die Hälfte davon gab ihren Rücktritt, nachdem die Missbrauchsstudie letzten Herbst publiziert wurde.
Aus der Vergangenheit und mit Blick ins nahe Ausland sind solche Mechanismen bekannt. Auch, dass bei der evangelischen Kirche Menschen austreten.
Darüber hinaus ist auch bekannt: Die breite Berichterstattung fördert bei Betroffenen, die bisher über ihre Geschichte geschwiegen haben, den Mut, sich zu melden. Seit letztem Herbst haben sich allein bei den Bischöfen mehr als 180 Menschen gemeldet. Bei der IG M!kU waren es knapp 60. Und auch die Historikerinnen und Historiker der Uni Zürich sind mit Betroffenen und anderen Zeitzeugen im Gespräch.
Für die laufende Hauptstudie wird die Forschung in den Archiven denn auch mit Ansätzen der Oral History ergänzt. Das kann helfen, der vermutlich hohen Dunkelziffer besser auf die Spur zu kommen. Also dass Fälle gefunden werden, die nicht in den Akten belegt sind. Das Forschungsprojekt, das wie die Pilotstudie von der römisch-katholischen Kirche in Auftrag gegeben wurde, läuft noch bis 2027.