Ich bin kein Freund von Touristen. Die stehen immer im Weg. Und sie machen ständig Fotos. Von Sehenswürdigkeiten ebenso wie von Banalitäten. Gerne auch Selfies. Und am liebsten mit dem ebenso praktischen wie lächerlichen Selfie-Stick. Ich selbst habe zwar keinen Selfie-Stick, aber auch ich bin manchmal Tourist. Vorwiegend im Urlaub – und mache dann auch Fotos.
Als Philosoph ist das keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil: Es ist hochgradig rechtfertigungsbedürftig. Denn die Zunft der Philosophie neigt seit Platon dazu, abschätzig über Bilder und Abbilder zu sprechen. Und Fotos sind ja Abbilder.
Walter Benjamin etwa meinte 1933, wir würden nur noch Knipsen, aber nichts mehr erleben. Ganz ähnlich der italienische Philosoph Giorgio Agamben, wenn er meint, mit der Kamera in der Hand würden wir dazu neigen, keine richtigen Erfahrungen mehr zu machen, sondern diese stattdessen an die Kamera zu delegieren.
Intellektuelles Bilder-Bashing
Die Publizistin Susan Sonntag sprach gar von einer «Verweigerung von Erfahrung». Sicher haben all die hochgeschätzten Intellektuellen gute Gründe für ihr Foto-Bashing. Ich persönlich finde allerdings, sie übertreiben. Und zwar masslos.
Ich bin in erster Linie dankbar für all die Urlaubsfotos, die ich in analogen und digitalen Alben aufgehoben habe. Zur Stütze des Gedächtnisses. Und, weil ich glaube, der französische Schriftsteller Marcel Proust hatte recht, als er meinte: Ein Grossteil unseres Gedächtnisses liegt ausserhalb von uns verborgen – in alten Gegenständen und Fotos, in Gerüchen und Klängen, die uns ganze Erinnerungswelten eröffnen, wenn wir sie nach längerer Zeit wieder zu Gesicht oder zu Gehör bekommen.
Foto ist nicht gleich Foto
Zudem glaube ich, es gibt Fotos und Fotos. Ein gutes Urlaubsfoto bringt etwas auf den Punkt: ein Lebensgefühl, eine Geschichte, eine Begegnung. In ihm verdichtet sich etwas Grösseres, Unfassbares. Der französische Fotograf Henri Cartier-Bresson sprach vom «entscheidenden Moment», den die Fotografie festhalten solle.
Und der Dichter Gotthold Ephraim Lessing pries den «fruchtbaren Moment», der im kunstvollen Bild festgehalten ist und der die Ereignisse vor und nach der Momentaufnahme gleichsam in sich kondensiert. Diesen Moment zu erwischen, gelingt nur wenigen Fotos. Aber immerhin.
Auf der Suche nach dem einen Bild
Wenn ich im Urlaub unterwegs bin, dann mache ich eher selten Fotos. Aber ich trage oft eine Kamera mit mir herum. Das allein verändert nämlich meinen Blick auf die Dinge. Mit der Kamera in der Hand lasse ich mir Zeit, ich verweile und suche nach überraschenden Motiven, nach unkonventionellen Perspektiven und auch nach Sehens-Unwürdigkeiten.
Ich bin auf der Suche nach dem, was der Philosoph Arthur C. Danto eine «Verklärung des Gewöhnlichen» nannte: nach einem Bild, das eine ganze Sichtweise auf die Welt transportiert, ein Lebensgefühl. Ein Bild, das mich die Welt auf neue und andere Weise sehen lässt.
Das scheint mir auch, neben der rein dokumentarischen Aufgabe, die wahre Berufung der Fotografie zu sein: die Kunst, sehen zu lernen. Fotos zu produzieren, die unseren Blick auf die Welt verändern. Manchmal schafft das sogar ein Selfie. Aber eher selten.