Sage mir, wohin du fährst, und ich sage dir, wer du bist. Das gilt besonders für die Wahl jener Destination, an der das Ich vermeint, sich selbst sowie die es umgebende Welt ganz und gar geniessen zu können: die Wahl des sommerlichen Urlaubsortes.
Eine existentielle Entscheidung, die sich letztlich um die Alternative zwischen Nord und Süd dreht. Mögen Ost und West politische Grundorientierungen bedeuten, in Sachen Musse und Selbstgenuss bleiben sie indifferent und versprechensarm.
Sonnen- oder Waldbaden?
Wohin also neigt der innerliche Urlaubskompass? Eine Frage, der kein Subjekt, das an Selbsterkenntnis interessiert ist, aus dem Wege gehen sollte. Zumal sich damit ein ganzes Set weiterer Genussoptionen wie notwendig verbunden zeigt. Allen voran die Wahl zwischen Meer und See im Bereich aquatischer Freuden. Aber natürlich auch diejenige zwischen steinerner Villa und holzgewirkter Hütte im Sinne wohnlichen Behagens.
Leiblich besteht eine Differenz zwischen Sonnen- und Waldbaden, festiv zwischen Lampion und Lagerfeuer, fläzend zwischen Strand und Steg, sportlich zwischen Surfen und Rudern. Kulinarisch locken in der einen Richtung Wein und Traube, in der anderen Bier und Beeren.
Droht an einem Ort Sonnenbrand und Hitzeschlag, warnt der andere mit Mückenstich und Dauerregen. Die Reihe liesse sich beliebig fortsetzen (Disco vs. Sauna, Boule vs. Buch …).
Womit natürlich nur demonstriert ist, was von Anfang an vorausgesetzt wurde: dass es sich bei Nord und Süd um existentielle Kategorien handelt, die unser ganzes Weltverhältnis von innen heraus durchdringen. Sie wirken wie zwei kulturelle Grundkräfte, die das abendländische Dasein prägen, seit es besteht und also denken will.
Lebenslust vs. Selbsterfahrung
So fällt es auch leicht, besagte Destinationsdifferenz etwa auf Friedrich Nietzsches Unterscheidung zwischen dionysischem (Süd) und apollinischem (Nord) Weltverhältnis zu beziehen. Auch die Spaltung zwischen katholischem und protestantischem Heilsversprechen lässt sich passgenau den beiden Himmelrichtungen zuordnen: ein protestantischer Neapolitaner ist kulturell ebenso ungrammatisch wie eine katholische Finnin.
Kulturell einschlägig bleiben im Zusammenhang Dichterphilosophen wie Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Mann oder Theodor W. Adorno. Alle vollzogen sie ihre temperamentalen Selbsteinschätzungen anhand der Nord-Süd-Achse (Süden: offen, sinnlich, weltbejahend; Norden: innerlich, zweifelnd, tiefschürfend).
Der südliche Mensch sucht im Aufbruch sein Selbst in der Welt befreiend zu verlieren; der nördliche hingegen die Welt im Selbst befreiend zu finden. So lauten traditionell die beiden Archetypen der Denkgeschichte.
Ein göttlicher Kompromiss
Bleibt es auf ewig bei diesen beiden Alternativen? Wo zeigte sich eine mögliche Vermittlung: geografisch, kulturell, mentalitätshistorisch? Eine wahrhaft schöne, grosse Frage, zu gross für diesen Text.
Doch mag der Wink gewagt sein, dass die Schweiz in ihrer göttlichen Mittellage, ihrer zerklüfteten Vielfalt, seereich und sonnendurchflutet, polyfon und eigenwillig, ein sommerliches Angebot verkörpert, wie es weltweit seinesgleichen sucht. Nicht nur für den Urlaub, sondern auch das Leben selbst. So jedenfalls der Eindruck, den man als Deutscher von der Eidgenossenschaft hat.
Weshalb also in die Ferne schweifen, wo das Gute doch so nahe liegt (und man es sich leisten kann)?