Ich weiss ja nicht, wie es bei Ihnen jeweils war, aber als Familie sind wir im Sommer mangels finanzieller Möglichkeiten immer ins Tessin gefahren, in das Ferienhaus meiner Grosseltern. Meine Sommerferien habe ich also über Jahre hinweg am selben Ort verbracht.
Der Blick in die Kindheit
In der Anhäufung des Schon-Gesehenen wurde irgendwann bereits der verlegte Schlüssel (der sich schliesslich auf dem Autodach wiederfand) zum Spektakel. Die stetige Wiederholung hat also auch ihr Gutes, nämlich Erwartungsminderung.
Ich würde sogar sagen, dass einzig die Wiederholung in uns nachträglich Nostalgie erzeugen kann. Denn, wenn ich heute wieder ins Tessin fahre, ist es wie ein Blick durchs Fenster in meine Kindheit. Und ich merke, dass die Reproduktion des bereits Bekannten gar nicht so miefig sein muss, wie sie klingt.
Wie viel Neues erträgt der Mensch?
Was also suchen wir, wenn wir verreisen? Das ganz Neue oder doch nur das Bekannte im Fremden?
Gemessen an den teilweise recht abenteuerlichen Reiseangeboten von verschiedensten Veranstaltern könnte man meinen, der reisende Mensch sei die personifizierte Neugier, in seiner Lust nach dem Unbekannten kaum zu bändigen.
Wenn man dann aber unterwegs ist und sich die Spezies des Touristen genauer anschaut, ereilen einen die Zweifel: darüber, wie viel Neues der Mensch eigentlich wirklich erleben möchte, zu wie viel Immersion im Fremden er tatsächlich bereit ist.
Das Neue im Alltag
Es ist unbestritten, dass das Neue eine grosse Anziehungskraft auf uns Menschen ausübt. Der Philosoph Peter Sloterdijk glaubt gar, dass die Liebe zum Neuen, die «Neophilie», unserer Kultur und Lebensweise genuin innewohne. Seiner Meinung nach lieben und suchen wir das Neue um seiner selbst willen – also nicht, um unser Adrenalin anzukurbeln oder unser Wissensbedürfnis zu stillen.
Aber stimmt das? Sind wir nicht im Gegenteil ganz oft verschlossen für das Neue, weil wir nur nach dem Bekannten suchen? Wie oft probieren Sie denn dem Alltäglichen zu entwischen, suchen bewusst nach unbekannter Musik, kochen Ihr Lieblingsgericht mit anderen Zutaten, oder wählen im Ausland das Abwegige von der Menukarte?
Das Staunen als Anfang der Philosophie
Immerhin klingt Sloterdijks Ansatz etwas versöhnlicher als «Neugier», die das Laster im Begriff bereits vor sich hinträgt. Glaubt man der Begrifflichkeit, sollte die Liebe zum Neuen nur tunlichst nicht masslos werden, sonst endet es im Desaster.
Aber ist es nicht gerade die zügellose Lust am Neuen, die Entdeckerlust, welche Innovation, Wissenschaft und Philosophie immer schon beflügelt hat? Es ist immerhin Platon, der das Staunen als Anfang der Philosophie manifest machte.
Das Fremde in nächster Nähe
Ob es nun die Vorsicht vor dem Laster ist, die Leute Jahr für Jahr auf denselben Campingplatz in der Toscana treibt? Wohl kaum. Es zeigt sich darin vermutlich eher die frühe Kapitulation vor der schieren Masse an Möglichkeiten und dem gleichzeitigen Bewusstsein, dass der Mensch nicht unendlich viel Neues akkumulieren kann, dass wir Kapazitätsgrenzen der Verarbeitung haben.
Aber vielleicht ist es auch einfach eine weise Demutsgeste, die besagt, dass man das Neue und das Fremde auch in der nächsten Nähe finden kann und man keinem falschen Exotismus anhangen muss, um die eigene Neugier zu demonstrieren.
Die Liebe zur Wiederholung
Denn wer schon mal Ameisenkolonien beobachtet hat, die schnurstracks und innerhalb kürzester Zeit den Weg ins Essenslager des Campingzelts gefunden haben, der wird nicht mehr behaupten, dass das «Altbekannte» langweilig und kognitiv abgeschlossen sei. Er wird mit der Tiefenschärfe argumentieren und sagen: Der Blick des Touristen ist oft jener der kleinen Blendenöffnung. Auf seinem Bild ist Vorder- sowie Hintergrund scharf.
Der Wiederholungstäter hingegen öffnet die Blende und stellt exakt das scharf, worauf er seinen Blick richten möchte, der Rest verschwimmt in diesem Augenblick.
Man kann sich zur Wiederholung nicht anders verhalten als liebend. Irgendwann zwingt sie einem die Justierung des Blickes auf, der eben doch Neues hervorbringt und sei es in der allernächsten Nähe. Denn die Welt liegt nicht fertig vor uns, wir bauen mit unserer Existenz ständig daran.