Der Ranft ist eine Schlucht in der geografischen Mitte der Schweiz. Sie ist weltabgewandt und zugleich lieblich eingebettet in die Natur. Ranft bedeutet Rand. Tatsächlich bricht beim Ort Flüeli-Ranft das Gelände in ein Tobel ab. Ein schmaler Weg führt zur ehemaligen Klause von Bruder Niklaus von Flüe und zum Fluss Melchaa.
Mit 15 Jahren bin ich als St. Galler nach Obwalden ins Internat der Benediktinermönche in Sarnen gegangen. Die Verwunderung über die Dialekte war gegenseitig. An Sonntagen sind wir manchmal zu Fuss von Sarnen durch eine bezaubernde Landschaft in den Ranft gegangen. Bei den Kapuzinermönchen gab es anschliessend Kaffee und Schnaps.
Ich kenne nur wenige Orte mit der spirituellen Qualität des Ranft: die Ruhe, das Wasser der Melchaa und die gleichermassen faszinierende wie verstörende Geschichte von Niklaus von Flüe. Sie hat mich nie mehr losgelassen.
Dramatische Lebenswende
Am 16. Oktober 1467 verabschiedet sich der 50-jährige Bauer und Ratsherr Niklaus von Flüe von seiner Frau Dorothee Wyss und seinen zehn Kindern. Er befindet sich in einer Lebenskrise, ist depressiv, und bricht zu einer Pilgerfahrt auf. Seine Rats- und Richterstellen hat er aufgegeben, den Hof seinem ältesten Sohn übergeben.
Doch die Vision einer brennenden Stadt bei Liestal im Baselbiet bringt ihn aus seinem Pilger-Konzept. Er vertraut sich einem Bauern an. Dieser redet ihm ins Gewissen, er solle heimkehren.
Niklaus von Flüe reist zurück, übernachtet heimlich im Stall des eigenen Hauses, bleibt unerkannt und zieht sich auf eine Alp zurück, wo er von Jägern entdeckt wird. Schliesslich lässt er sich von einer Vision geleitet im Ranft nieder und lässt dort eine Kapelle und eine Einsiedlerzelle errichten.
Ein Stein als Kopfkissen
Die Kapelle wird später erneuert. Die Eremitenklause aber ist bis heute erhalten. Ein Fenster geht zur Kapelle, ein Fenster nach draussen zur Welt und zu den Menschen. Kein Stuhl, kein Bett, dafür ein Stein, der als Kopfkissen des Eremiten gezeigt wird. Der Stein muss immer wieder ersetzt werden. Touristen nehmen ihn als Andenken mit.
Niklaus von Flüe hat seinen Hof mit dem Einverständnis seiner Frau Dorothee Wyss verlassen. Nun lebt er als Bruder Klaus zehn Minuten zu Fuss von seiner Familie entfernt 20 Jahre in der Einsamkeit. Er soll bis zu seinem Tod nicht mehr gegessen haben. Jahrelang hat der Eremit das Fasten und Beten eingeübt. Das Fasten als Weg zur Ekstase und zu Visionen ist aus verschiedenen Religionen bekannt.
Bei jedem Besuch entdecke ich neue Facetten an Bruder Klaus und seinem Wirken. Mystik ist bei ihm kein weltabgewandtes Meditieren, sondern praktisches Handeln aus der Kraft der Stille heraus.
Werde wesentlich
Der Eremit wirkt als persönlicher Berater und Friedensstifter. Den zerstrittenen Eidgenossen rät er: Hört einander zu, kommt einander entgegen, schliesst Kompromisse. Seine Ratschläge zeugen von gesundem Menschenverstand und Gottvertrauen: «Seid gütlich, denn ein Gutes bringt das andere.» Zuhören, Gelassenheit, Genügsamkeit, weniger Ich-Bezogenheit.
Der Ranft ist für mich ein Ort der Stille, der Kraft und der Inspiration. Es ist still hier unten. Klause und Kapelle wirken, als ob Bruder Klaus eben noch dagewesen wäre. Die Melchaa plätschert, das Leben ist im Fluss, Werden und Vergehen.
Wenn ich längere Zeit nicht hingehen kann, besuche ich den «Ranft in mir», setze mich zu Hause hin und höre in mich hinein. Werde wesentlich.