Idyllisch liegt es, das Kirchlein Scherzligen. Gleich neben der Aare, wenige Meter vom Thunersee entfernt. Die Wiese saftig grün, ein grosser Baum spendet Schatten, am gegenüberliegenden Ufer ragen die Berge in die Höhe.
Ein Ort, um zur Ruhe zu kommen. Das wird mir schnell klar, als ich das Kirchlein betrachte, das Rauschen des Flusses im Ohr.
Eigentlich bin ich zum Arbeiten hier und ziemlich im Stress – drei Interviewpartnerinnen treffen, Ton- und Videoaufnahmen machen. Dann steigt das Mikrofon aus. Doch der Ort erdet mich.
Vom Kultort zur Marienkirche
Das kommt nicht von ungefähr, glaubt Markus Nägeli, evangelisch-reformierter Pfarrer der Kirche Scherzligen und bekennender Fan des kleinen Gotteshauses. Er ist überzeugt: Die Kirche steht an einem jahrtausendealten Kraftort. An einem Ort, an dem das Licht eine besondere Rolle spielt.
Denn genau am 21. Juni, dem längsten Tag des Jahres, scheint das Licht bei Sonnenaufgang diagonal durch die Kirche. Laut Markus Nägeli wurde hier früher die Sommersonnenwende gefeiert. Christinnen und Christen, die die erste Kirche in Scherzligen vor rund 1500 Jahren bauten, sollen den alten Kultort übernommen haben.
Ein Wunder – oder bemerkenswerte Baukunst?
Auch spätere Generationen nutzten das Sonnenlicht für ein Schauspiel in der Kirche. Seit dem Bau der heutigen Kirche im Jahr 1380 projiziert das Sonnenlicht eine Lichtgestalt über den Chorbogen in der Kirche. Und zwar Mitte August, pünktlich zu Mariä Himmelfahrt. Mit etwas Fantasie kann man die Projektion als Mariengestalt interpretieren.
Besonders faszinierend finde ich, dass die Sonne dabei nicht direkt in die Kirche scheint, sondern von der Aare gespiegelt wird und über ein Fenster einfällt. Welch architektonische Meisterleistung. Ich stelle mir vor, wie Menschen über Jahrhunderte Gottesdienst feierten und mit Ehrfurcht zusahen, wie Maria – pünktlich zu ihrem Feiertag – als Lichtgestalt in ihrer Kirche erschien.
Ein Pilgersouvenir der anderen Art
Doch so faszinierend die Lichtphänomene sind, das eigentliche Herzstück in der kleinen Kirche von Scherzligen ist das Passionspanorama. Es ziert eine ganze Wand und erzählt die Leidensgeschichte Jesu.
Vom Einzug in Jerusalem auf dem Rücken eines Esels, über das letzte Abendmahl, den Prozess, die Kreuzigung bis hin zur Auferstehung und zur Himmelfahrt. 1469 ist das Panorama entstanden. Pfarrer Markus Nägeli glaubt, dass der Ritter Adrian von Bubenberg das Gemälde in Auftrag gegeben hat, um seine eigene Pilgerreise nach Jerusalem zu verewigen. Als Souvenir, sozusagen.
Meditieren im Mittelalter
Den Menschen im ausgehenden Mittelalter ermöglichte das Gemälde, in die Passion einzutauchen, sie mitzuerleben. Indem sie in einer Art Meditation einzelne Szenen intensiv betrachteten und nachzufühlen versuchten. «Devotio moderna» nennt man diese Frömmigkeitsform. Ein zutiefst persönlicher, innerer Nachvollzug der Leidensgeschichte Jesu.
So unscheinbar es von aussen erscheinen mag, das Kirchlein von Scherzligen hat viel zu bieten. Drinnen ein kulturhistorischer Schatz, der mir ermöglicht, mich in die Menschen hineinzufühlen, die hier über Jahrhunderte Gottesdienst gefeiert und ihren Glauben und ihre Spiritualität ausgelebt haben. Draussen die Natur, die mich ganz ins Jetzt zurückholt. Nach meinem Besuch kann ich gut nachvollziehen, weshalb Pfarrer Markus Nägeli Fan von seiner kleinen Kirche bei Thun ist.