Ich hatte zuvor Fotos der Kapelle von Javorca gesehen und dachte: Na ja, eine Kapelle auf einem Felsvorsprung, inmitten von Bergen, das sieht ja aus wie in der Schweiz. Warum soll ich mir die ansehen?
Als ich die Kapelle betrat, wusste ich, weshalb. Und als ich ihrer Geschichte gewahr wurde, erst recht.
Ins slowenische Tal
Die Kapelle von Javorca steht oberhalb der slowenischen Kleinstadt Tolmin im Sočatal. Der erste Teil des Weges ist befahrbar, den zweiten geht man zu Fuss.
Ich gehe den Weg nicht allein, sondern mit dem slowenischen Künstler Rok Cuder, der einen Schlüssel zur Kapelle hat. Auf dem Weg erzählt er mir ihre Geschichte.
Die zwölf Schlachten am Isonzo
Die Soča heisst auf Italienisch Isonzo. Weiter oben im Tal liegt der Ort Kobarid, Caporetto. Älteren Generationen dürften Fluss und Ort noch ein Begriff sein: Hier verlief im Ersten Weltkrieg die Front zwischen Italien und Österreich-Ungarn. Zweieinhalb Jahre lang lieferten sich die Armeen der beiden Länder Schlachten, die über eine Million Tote forderten.
Die blutigen Kämpfe gingen als «die zwölf Schlachten am Isonzo» in die Geschichte ein. Die Spuren des Grossen Krieges, wie er hier genannt wird, sind noch immer zu sehen. Ganze Hügelzüge sind noch heute von Schützengräben durchzogen. Und das erste Wort, das ich auf Slowenisch lerne, weil ich es so oft lese, ist «Pokopališče», Friedhof.
Von Soldaten errichtet
Ab Mai 1915 waren auf dem Hochplateau von Polog Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee stationiert. Ob die Idee zum Bau der Kapelle wirklich von einem Soldaten stammte, ist nicht bewiesen. Das Bauvorhaben bekam aber schnell den Segen von ganz oben, im Sommer 1916 wurde das Gotteshaus errichtet.
Gebaut wurde sie von den Soldaten selbst. Bestimmt waren sie froh, wenn sie auf die Baustelle durften, anstatt in die Schützengräben.
Als wir die lange, gemauerte Treppe erklommen haben und Cuder die quietschende Tür öffnet, bin ich überwältigt. Die Kapelle ist ein Kleinod des Jugendstils. Der ganze Innenraum ist mit Ornamenten ausgemalt, zwei riesige Engel rahmen den Altar ein.
Remigius Geyling, damals Szenograf an der Wiener Oper, gestaltete den Innenraum. Das kann man nachlesen, den Wow-Effekt aber muss man selbst erleben.
Hass und Versöhnung
An den Holzwänden haben die Soldaten die Namen gefallener Kameraden eingebrannt, 2565. Um sie alle unterzubringen, sind sie doppelseitig beschrieben und lassen sich wie die Seiten eines Totenbuches aufklappen.
Polnische, ungarische, rumänische, slowenische, kroatische, bosnische Namen lese ich da, nicht wenige davon waren Juden oder Muslime. Bosnisch-muslimische Soldaten waren in der k.u.k. Armee beliebt, weil sie besonders hart kämpften, lerne ich von Rok.
Es ist lange her, denke ich, aber gleichzeitig auch nicht. Hass ist schnell gesät, Versöhnung und Vergebung wachsen langsam. Um das zu unterstreichen, meisselten Soldaten des mittlerweile faschistischen Italiens 1934 die Worte «Vor Gräbern verstummt der Feindeshass» an die Kapelle.
Verstummt ist der Hass danach nicht: Die Kämpfe um das Sočatal wurden im Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen. 1947 wurde das Tal Jugoslawien, der Unterlauf des Isonzo Italien zugeschlagen.
Heute ist die Region zwischen Alpen und Mittelmeer bekannt fürs River Rafting, jedoch von beiden Weltkriegen gezeichnet. Wer will, kann auf dem grenzübergreifenden «Friedensweg», der die wichtigsten Erinnerungsorte der Schlachten am Isonzo verbindet, Museen, Schützengräben und Friedhöfe besuchen.
Die Kapelle von Javorca sollte unbedingt mit eingeplant werden. Sie erinnert daran, wie wertvoll und zerbrechlich der Frieden ist.