Es ist gegen halb sechs Uhr morgens, als mich der Muezzin aus dem Schlaf reisst: «Allahu akbar» – «Gott ist grösser» tönt es erst von fern. Wenige Augenblicke vergehen, ehe sich eine zweite und dritte Stimme dazu gesellen.
Bald schon überlagern sich die Gebetsrufe vierer Muezzins aus den umliegenden Minaretten zu einem sirenenartigen Heulen, welches den dämmernden Morgen durchschallt. Wer jetzt noch schläft, wird eines Besseren belehrt: «Das Gebet ist besser als Schlaf» singen sie einhellig.
Die älteste Handelsstrasse der Welt
Ich bin in der Heimat von Sindbad dem Seefahrer: in Maskat, der Hauptstadt des Sultanats Oman, das im Osten der arabischen Halbinsel, direkt am indischen Ozean liegt.
Hier begann die älteste Handelsstrasse der Welt: die Weihrauchstrasse. Früher noch mit Gold aufgewogen, wird Weihrauch nun in den Souks feilgebotenen und von Omanis nicht nur verräuchert, sondern in unterschiedlicher Form zu sich genommen.
Abgesehen von Sindband ist der Oman auch Heimat von Datteln und Kardamomkaffee, schroffem Gebirge und Wüste. Und: Von diversen Religionsgemeinschaften. Hier leben Muslime, Christen, Hindus, Sikhs und Buddhisten offenbar friedlich nebeneinander.
Einwohner schreiben diese Toleranz gerne dem Ibadismus zu, einer islamischen Rechtsschule, die als äusserst liberal gegenüber anderen Religionen gilt. Schätzungsweise zwei Drittel aller Omani gehören ihr an, zählen also weder zu den Sunniten noch zu den Schiiten.
Diese interreligiöse Toleranz ist auch historisch bedingt: Schon seit dem 16. Jahrhundert bestehen zwischen dem Oman und dem indischen Subkontinent Handelsbeziehungen, die dazu führten, dass sich eine beachtliche indische und bengalische Diaspora entwickelte.
Hindutempel in Maskat
Gut 200’000 Hindus sollen in Oman leben. Das zeigt sich am kulinarischen Angebot und an den beiden Gotteshäusern des Landes. Im Süden Maskats besuche ich den Shiva Tempel. Er beheimatet die älteste Hindu-Community der Golfregion.
Gebetsglocken läuten, Hindus allen Alters umkreisen die Altäre, Opfer werden dargebracht – man wähnt sich in Indien. Allerdings nur innerhalb der Tempelmauern, denn trotz aller Toleranz sind Prozessionen ausserhalb des Tempels verboten.
Sultan Qabus: liberaler Muslim und Reformer
Auf die Frage, woher diese religiöse Toleranz komme, wird wiederholt auf Sultan Qabus verwiesen. Seit den 1970er-Jahren war er als absolutistischer Herrscher an der Macht und trug massgeblich zur Modernisierung des Landes bei, finanzierte sogar den Bau anderer religiöser Stätte mit.
Vor seinem Tod 2020 wurde Qabus frenetisch verehrt und überall abgebildet. Sogar auf dem Weg zum Jebel Shams, dem höchsten Gebirge Omans, fand ich seine Pappfigur in Lebensgrösse. Ob man sich hier Segen und Schutz für die Reise abholt?
Eine der grössten Moscheen weltweit ist nach ihm benannt und thront in Maskat. 20'000 Gläubige finden darin Platz, Muslime sämtlicher Glaubensrichtungen beten hier nebeneinander.
Das Zentrum der Ibaditen
Mehr im Landesinneren, in Nizwa, liegt das Zentrum der Ibaditen. Dort lädt der Imam Ali al-Seif («Ali, das Schwert») gar in seine Moschee ein.
Wo in der Regel Andersgläubige nicht hinkommen, erläutert er mir vor der mehrhundertjährigen Mihrab, der nach Mekka ausgerichteten Gebetsnische, den Ibadismus und hat Fragen zur christlichen Trinität.
Das Gespräch scheitert irgendwann nicht nur an Sprachbarrieren. Für ihn ist klar: Gott wird am Ende über uns alle richten. Bis dahin aber sollen sich die Menschen jeden Glaubensrespektvoll und nachsichtig begegnen.