Sex in der Literatur ist ein leidiges Thema. Oft ist er hölzern und fantasielos oder abstossend und gewaltvoll. Der männlich geprägte Literaturkanon ist voller schlechter Sexszenen. Auch dagegen schreibt der im Frühjahr erschienene Kollektivroman «Wir kommen» an.
Schreiben gegen die Scham
Habe ich schon mal «Ich will dich vögeln» zu jemandem gesagt und es nicht ironisch gemeint? Solche Fragen wirft die Lektüre von «Wir kommen» auf. Die Scham ist dabei Programm. Sie lauert stets im Hintergrund – sowohl beim Lesen als auch im Text. Scham ist ein mächtiges Gefühl. Denn sie bringt zum Schweigen und vereinzelt. Beides möchte «Wir kommen» ändern.
Das gelingt. Auch dadurch, dass die Scham nicht negiert wird: Hier schreiben 18 Personen unterschiedlicher Herkünfte und Generationen ziemlich direkt über Sex. Darüber, wie sie lieben und begehren – oder eben nicht. So offenbart sich, wie unterschiedlich Begehren sein kann: «Die Gemeinschaft der Asexuellen übrigens nennt sich Cake. Denn sie sagen: Was ist besser als Sex? Kuchen!»
Das Tröstliche: «Wir kommen» tut nicht so, als wäre all das heute kein Problem mehr. Gerade weil sie sich immer noch schämen, schreiben sie darüber. Und weil es Gefahren birgt, tun sie es im Kollektiv.
Ein Buch wie eine Collage
Wer einen klassischen Roman erwartet, wird enttäuscht. Denn das Buch hat weder Spannungsbogen noch eine in sich geschlossene Handlung. Es ist eine Ansammlung von Miniaturen und Absätzen, thematisch gegliedert in Kapitel. Es kommt einer Collage gleich. «Ein Chor trifft es am ehesten», sagt Simoné Goldschmidt-Lechner, eine der jüngeren Mit-Autorinnen.
Bewusst wird offengelassen, ob die Erfahrungen real oder fiktiv sind. Deswegen auch das Genre «Roman». «Dies ist kein Trend zur Autofiktion», heisst es an einer Stelle im Buch.
«Ist das Literatur?»
Der Kollektivroman sorgte im SRF-Literaturclub vom Mai für hitzige Debatten. Die Slam-Poetin Lisa Christ war begeistert und beteuerte, noch nie so etwas gelesen zu haben. Die Literaturkritikerin Elke Heidenreich hingegen liess kein gutes Haar daran. Ihr Urteil: Das sei keine Literatur.
Auch im Feuilleton wurde «Wir kommen» kontrovers diskutiert. Ein Buch also, das mitunter heftige Reaktionen auslöst. Daran zeigt sich: Weibliches und queeres Begehren als Gegenstand der Literatur provozieren – noch immer.
Die literarische Qualität gerät dabei oft aus dem Blick, statt des Textes werden die Schreibenden kritisiert. So verkniff sich auch Heidenreich im Literaturclub nicht, zu behaupten, dass die Autorinnen von «Wir kommen» verklemmt seien.
100 Bücher in einem
Viel interessanter als die Frage, ob «Wir kommen» überhaupt Literatur sei, ist, wie der Roman geschrieben wurde. Und ob es lohnenswert ist, sich auf das Experiment einzulassen.
Die drei Autorinnen Verena Güntner, Elisabeth R. Hager und Julia Wolf haben das Projekt initiiert. Es gab einige wenige Spielregeln, erklärt Elisabeth R. Hager: «Wir waren die ganze Zeit füreinander anonym.» Bis jetzt ist nicht ersichtlich, wer was geschrieben hat.
Nach der sechswöchigen Schreibzeit haben die drei Herausgeberinnen den Text überarbeitet, verdichtet und in Kapitel gefasst. «Man hätte 100 verschiedene Bücher aus dem Buch machen können», so Hager.
Geteiltes Risiko – und geteilte Verantwortung
Der Literaturbetrieb ist hierarchisch organisiert. Das macht Schreibende zu Einzelkämpfenden. Gemeinsam zu schreiben und das gegen aussen sichtbar zu machen, kann an der Vorstellung des einsamen Autorengenies rütteln. Es ist kein Zufall, dass häufig marginalisierte Menschen sich schreibend zusammentun, um ihren Stimmen mehr Gewicht zu verleihen.
«Der Aufschwung des kollektiven Schreibens in der Gegenwart scheint nicht nur ästhetische Gründe zu haben», sagt der Literaturwissenschaftler Daniel Ehrmann von der Universität Wien. Viele der Kollektive hätten auch eine gesellschaftspolitische Agenda.
Man teilt sich das Risiko, für den Text angegriffen zu werden. Ausserdem kann man als eine Stimme von vielen in der Gruppe untertauchen, und dadurch noch ehrlicher schreiben.
Aber kollektives Schreiben beinhalte auch eine Verantwortung füreinander, erklärt Simoné Goldschmidt-Lechner. Im Buch erhalten etwa Gewalterfahrungen Raum, auf die andere Schreibende antworten und so die betroffenen Kollektiv-Mitglieder auffangen.
«Kollektives Schreiben ist wichtig für die Gesellschaft und die Welt mit ihren vielfältigen Krisen», sagt Goldschmidt-Lechner, «anders geht es glaube ich gar nicht».
Autorenkollektiv «Homer»?
Aber ist es wirklich neu, das kollektive Schreiben? «Formen von Kollektivität sind im Grunde so alt wie die Literaturgeschichte», sagt Daniel Ehrmann. Homers Epen etwa: «Seit dem 18. Jahrhundert wurde immer intensiver diskutiert, ob Homer nicht vielleicht ein Kollektivname sein könnte».
Aber auch im 20. Jahrhundert gab es kollektive Autorschaft. Denken wir an den deutschen Dramatiker Bertolt Brecht. Er hat beim Schreiben immer wieder mit Frauen zusammengearbeitet, es aber nicht kenntlich gemacht. Viele kollektive Texte wurden nicht als solche ausgewiesen.
Die Zukunft des Schreibens
«Wir kommen» zu lesen ist, als würden wir heimlich einem intimen Gespräch zwischen Generationen lauschen. Das ist der Reiz. Die Vielstimmigkeit ist bereichernd und entwickelt einen Sog. Die literarische Qualität ist durchzogen.
Das liegt aber im Konzept begründet: Wenn 18 professionell Schreibende mit unterschiedlichen Stilen und Erfahrungen an einem Text arbeiten, kann keine einheitliche Qualität herauskommen. Wer sich offen auf das Experiment einlässt, wird belohnt. Denn «Wir kommen» fordert heraus, ist lehrreich und trifft einen Zeitgeist.
Ist kollektives Schreiben also die Zukunft? «Es ist zumindest eine Zukunft», sagt Elisabeth R. Hager. Diese Schreibform ist gekommen, um zu bleiben. Oder wie es im Buch steht: «Wir kommen gerne, aber wir bleiben lieber.»