5. Julia von Lucadou: «Tick Tack» (13 Punkte)
Die Teenagerin Mette ist eine leidenschaftliche TikTokerin. In ihrem Empfinden sind die Grenzen zwischen realer und virtueller Welt fliessend. Zusammen mit dem Influencer Jo versteigt sich Mette zur wahnhaften Vorstellung, die traditionellen Medien würden die Menschen um die Wahrheit betrügen.
Mit der Corona-Pandemie wird die Lage plötzlich ernst. Ein Roman mit gesellschaftlicher Dringlichkeit, der sprachlich und formal originell Einblicke ins Denken und Fühlen der jungen Generation gewährt.
Julia von Lucadou lässt in «Tick Tack» eine «Community» von jungen Leuten zu Wort kommen, die sich fast nur digital austauschen: rasant, narzisstisch, oft rotzig, doch hinter dem verzweifelten Kampf um virale Aufmerksamkeit verbergen sich empfindsame, verunsicherte Seelen. Zeitgemässer kann ein Buch kaum sein.
4. Nino Haratischwili: «Das mangelnde Licht» (17 Punkte)
Georgien in den 1990er-Jahren. Keto, Dina, Ira und Nene wachsen im Schatten des Bürgerkriegs auf. Sie werden Zeuginnen des Kriegs, der Gewalt und Verrohung. Zeuginnen jener entscheidenden Momente, in denen Menschen zu Bestien werden oder eben nicht, indem sie als Menschen handeln. Diese Erfahrungen hinterlassen im Leben der vier Freundinnen tiefe Narben. Doch ihre Freundschaft gibt ihnen Halt.
Nino Haratischwili verbindet die vier Einzelschicksale mit den historischen Begebenheiten so gekonnt, dass die georgisch-russischen Verhältnisse von damals erlebbar werden. Bezüge zur aktuellen Situation in der Ukraine drängen sich auf.
Nach dem Ende der Sowjetunion taumelt Georgien ins Chaos: Mit Zärtlichkeit und epischem Atem erzählt Nino Haratischwili vom selbstbestimmten Weg von vier Freundinnen durch eine Welt aus nackter Gewalt und brüchiger Männlichkeit.
2. (punktgleich) Claudia Schumacher: «Liebe ist gewaltig» (20 Punkte)
Die 17-jährige Juli wächst in einer vermeintlichen Vorzeigefamilie auf. Doch hinter den Gardinen herrscht das Grauen: Sie und ihre Geschwister werden vom Vater verprügelt. Und die Mutter, die ebenfalls geschlagen wird, streitet alles ab. Denn das Bild von der perfekten Familie darf nicht beschädigt werden.
Das Besondere an Claudia Schumachers Debüt ist die rotzige Erzählstimme. Juli beschreibt den «riesengrossen Haufen Scheisse bei uns daheim» mit Wut, Verzweiflung, Galgenhumor.
Eine junge Frau mit Gewalterfahrung in der Familie auf dem Weg zum Erwachsenwerden: atemlos, aufregend, überzeugend. Ein gewaltiges Debüt.
2. (punktgleich) Lucy Fricke: «Die Diplomatin» (20 Punkte)
Fred ist Ende 40 und eine erfahrene Diplomatin. Auf ihrem neuen Posten als Botschafterin in Uruguay begeht sie einen kapitalen Fehler, indem sie das Verschwinden einer Reisejournalistin falsch einschätzt. Sie wird zurückgepfiffen nach Deutschland. Doch dann eröffnet sich ihr eine neue Chance.
Sie wird nach Istanbul geschickt. Lucy Fricke zeigt sich als gute und kritische Polit-Beobachterin. Mit spitzem Humor bildet sie die Komplexität der heutigen Realpolitik auf dem glatten, glänzenden Parkett der internationalen Beziehungen ab. Ohne dabei selbst auszurutschen.
Ein kluger, fesselnder Polit-Thriller mit der Botschaft: Wer die Welt zu einer besseren machen will, kann das: mit Zivilcourage, Besonnenheit und Unternehmergeist.
1. Rebekka Salm: «Die Dinge beim Namen» (27 Punkte)
1984 in einer Winternacht. Sandra, 16, wird vom gleichaltrigen Max vergewaltigt. Im 500-Seelen-Dorf hat jede und jeder eine eigene Version dieses sexuellen Übergriffs mit Kindsfolge im Kopf – auch 35 Jahre später. Der Vollenweider zum Beispiel hat damals aus der Ferne zugeschaut, ohne einzugreifen. Um sein Gewissen zu erleichtern, will er nun Sandras Geschichte veröffentlichen.
Das bringt Unruhe ins Dorf. Denn «manchmal war eine Geschichte komplexer als die Geschichten, die man sich darüber erzählte, es erahnen lassen würden». Rebekka Salm nennt die Dinge beim Namen. Ihr Debüt ist pointiert und von der ersten bis zur letzten Seite hochspannend.
Ein dörflicher Mikrokosmos, in dem sich die ganz grosse Welt spiegelt.