5. Mina Hava: «Für Seka» (16 Punkte)
Das Debüt der 25-jährigen Mina Hava erzählt die Geschichte einer bosnischen Familie in der Schweiz, die durch politische und soziale Umstände nirgendwo richtig zu Hause ist. Der Vater floh vor dem Krieg zu Beginn der 1990er-Jahre. Die Mutter ist Tochter sogenannter «Gastarbeiter». Und die Tochter sucht Boden unter den Füssen, indem sie gegen Verdrängung und Vergangenheitstraumata anschreibt.
Mina Havas Migrationstext stellt die dringlichen Fragen nach persönlicher Verortung sprachlich radikal neu – aus einem Steinbruch von Erinnerungsbildern und Recherchen entstehen stets neue, aber fragmentarisch und fragil bleibende Zusammenhänge.
4. Herbert Clyde Lewis: «Gentleman über Bord» (22 Punkte)
Ein erfolgreicher Börsenmakler in der Krise unternimmt Ende der 1930er-Jahre auf einem Frachtschiff eine Reise im Pazifik. Durch ein Missgeschick fällt er frühmorgens über Bord. Das Meer zeigt sich sanft an diesem Tag. So ist der Gentleman überzeugt, dass das Schiff wenden und ihn sogleich retten wird – zu Recht?
In eleganter Sprache formt Herbert Clyde Lewis eine tragikomische Gesellschaftsparabel. Er erzählt von den Zuständen und Entwicklungen, die der Gentleman im Ozean durchmacht. Und vom Reim, den sich die anderen Passagiere auf sein Verschwinden machen. Das Buch erschien im Original 1937. Jetzt können wir dieses zeitlose kleine Meisterwerk endlich auch auf Deutsch entdecken.
Ein ergreifender, aufwühlender und zutiefst menschlicher Roman, der den Protagonisten wie die Leserschaft an existenzielle Grenzbereiche heranführt – und darüber hinaus.
3. Helga Schubert: «Der heutige Tag» (34 Punkte)
Die deutsche Schriftstellerin Helga Schubert ist 83, ihr Mann 96 Jahre alt – und pflegebedürftig. Schubert kümmert sich zu Hause um ihn. Rund um die Uhr ist sie für ihn da. Von diesem kräftezehrenden Alltag erzählt «Der heutige Tag».
Gleichzeitig findet Schubert sehr berührende Worte für die Liebe zu ihrem Mann. Das Buch ist ein poetisches Abschiednehmen. Anrührend, aber – und das ist der gelungene Balanceakt – an keiner Stelle kitschig.
Das Grossartige an ihren Texten ist, dass sie niemandem mehr etwas beweisen muss. Helga Schubert kann einfach schreiben.
2. Lukas Bärfuss: «Die Krume Brot» (40 Punkte)
Armut kann ganze Leben zerstören – auch in der reichen Schweiz. Davon erzählt der neue Roman «Die Krume Brot» von Lukas Bärfuss. Im Zentrum steht eine junge Frau mit italienischen Wurzeln im Zürich der 1960er- und 1970er-Jahre.
Sprachlich subtil und voll ergreifender Empathie schildert Bärfuss, wie deren Leben aufgrund materieller Not zur Hölle wird: Zwar rackert sich die Frau in der Fabrik ab, aber der Lohn reicht nicht aus, um sich und die kleine Tochter durchzubringen. In seinem Roman stellt Lukas Bärfuss die Grundfrage: Woran liegt es, wenn Lebenswege scheitern: an den Umständen? Oder auch am eigenen Unvermögen?
Atemlos folgt man dem Kampf der Romanheldin Adelina. Lukas Bärfuss fasst ihr Gehetztsein und Aufbegehren in präzise, schnelle Sätze, die eine ungeheure Sogwirkung entfalten.
1. Charles Ferdinand Ramuz: «Sturz in die Sonne» (45 Punkte)
Über 100 Jahre alt und trotzdem brandaktuell: 1922 veröffentlichte der Westschweizer Schriftsteller Charles Ferdinand Ramuz den Roman «Présence de la mort». Eine Dystopie, die davon handelt, dass die Erde auf die Sonne zufliegt und deshalb in wenigen Tagen verbrennen wird. Die Ernte verdorrt, die Gletscher schmelzen und die soziale Ordnung zwischen den Menschen zerfällt.
Unter dem Titel «Sturz in die Sonne» erscheint Ramuz’ Klimaroman jetzt erstmals auf Deutsch. Souverän übersetzt von Steven Wyss, ist diese Entdeckung eine kleine Sensation und das Buch der Stunde.
Was tun die Menschen, wenn ihnen das Ende droht? Laut Ramuz halten sie die Beständigkeit der Dinge für so beständig, dass sie sich niemals ändern wird. Ein Satz, dessen Bedeutung weit über den Roman hinausreicht und andeutet, woher das beklemmende Gefühl beim Lesen dieses nachdenklichen Textes rührt.