5. Martin Suter: «Melody» (22 Punkte)
Melody heisst die schöne Frau mit dem langen schwarzen Haar, die als Ölgemälde in der Eingangshalle von Dr. Stotz' Villa hängt. Ihr spurloses Verschwinden am Hochzeitstag überschattet Dr. Stotz ein Leben lang. Mit 84 Jahren erzählt der ehemalige Nationalrat und einflussreiche Geldgeber dem neuen Nachlassverwalter Tom von seiner grossen Liebe: Melody war sein erster Gedanke am Morgen, sein letzter am Abend und fast sein einziger dazwischen.
Welche Gründe treiben Dr. Stotz an, diese Frau derart zu vergöttern? Steckt dahinter Imagepflege, sich als grosser, unglücklicher Liebender gesellschaftlich in Szene zu setzen?
Martin Suter ist ein unterhaltsamer Roman mit viel Suspense gelungen, der zugleich die Schweizer Wirtschaftselite aufs Korn nimmt.
Im ersten Leseanlauf ist man etwas versucht, «Melody» als «Altherrenwerk» abzutun. Da ist man bei Martin Suter allerdings an der falschen Adresse. Irrungen und Wirrungen nehmen im Lauf der Geschichte an Fahrt auf und führen zu einem köstlichen Lesevergnügen.
4. Sarah Jollien-Fardel: «Lieblingstochter» (22 Punkte)
Ein Dorf im Wallis. Ein Familienvater, der seine Frau und die beiden Töchter schlägt, die ältere sexuell missbraucht. Die Frauen wehren sich nicht. Das Dorf weiss, was vor sich geht – und schweigt. Aus diesem Trauma versucht die jüngere Tochter Jeanne immer wieder einen Weg zu finden.
In kurzen, rhythmischen Staccato-Sätzen mit grossem Einfühlungsvermögen wird hier das Innenleben einer Figur nach aussen gekehrt. Und aufgezeigt, mit welchen Ohnmachtsgefühlen, Ängsten und seelischen Verletzungen Jeanne noch Jahrzehnte nach den Ereignissen zu kämpfen hat.
Der Roman der Walliser Autorin war im letzten Jahr für den Prix Goncourt nominiert und erhielt den Prix du Roman Fnac und den Choix Goncourt de la Suisse 2022.
Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen so perfekten Erstlingsroman gelesen zu haben. Konzentriert, dicht und sprachlich sehr sorgfältig.
3. Helga Schubert: «Der heutige Tag» (23 Punkte)
Die deutsche Autorin Helga Schubert ist 83, ihr Mann 96 Jahre alt – und pflegebedürftig. Schubert kümmert sich zu Hause um ihn, rund um die Uhr. In «Der heutige Tag» beschreibt Helga Schubert ihren kräftezehrenden Alltag. Gleichzeitig findet sie berührende Worte für die Liebe zu ihrem Mann.
Das Buch ist ein poetisches Abschiednehmen. Anrührend, aber an keiner Stelle kitschig.
Das Grossartige an ihren Texten ist, dass sie niemandem mehr etwas beweisen muss. Helga Schubert kann einfach schreiben.
2. Herbert Clyde Lewis: «Gentleman über Bord» (29 Punkte)
Ein Börsenmakler in der Krise unternimmt Ende der 1930er-Jahre auf einem Frachtschiff eine Reise im Pazifik. Durch ein Missgeschick rutscht er frühmorgens auf einem Ölfleck aus und fällt über Bord. Das Meer zeigt sich sanft an diesem Tag. So ist der Gentleman überzeugt, dass ihn das Schiff, das sich immer weiter entfernt, sogleich retten wird – zu Recht?
In eleganter Sprache formt Herbert Clyde Lewis eine tragisch-komische Gesellschaftsparabel. Er erzählt von den Zuständen und Entwicklungen, die der Gentleman im Ozean durchläuft. Und vom Reim, den sich die anderen Passagiere auf sein Verschwinden machen.
Das Buch erschien im Original 1937. Jetzt ist das zeitlose kleine Meisterwerk endlich auf Deutsch erschienen.
Ein ergreifender, aufwühlender und zutiefst menschlicher Roman, der den Protagonisten wie die Leserschaft an existenzielle Grenzbereiche heranführt – und darüber hinaus.
1. Lukas Bärfuss: «Die Krume Brot» (40 Punkte)
Armut kann Leben zerstören – auch in der reichen Schweiz. Davon erzählt der Roman «Die Krume Brot» von Lukas Bärfuss. Im Zentrum steht eine junge Frau mit italienischen Wurzeln im Zürich der 1960er- und 1970er-Jahre. Sprachlich subtil und mit ergreifender Empathie schildert der Roman, wie ihr Leben aufgrund materieller Not zur Hölle wird: Die Frau rackert sich in der Fabrik ab, aber der Lohn reicht nirgendwo hin, um sich und die Tochter durchzubringen.
Im Roman stellt Lukas Bärfuss die Grundfrage: Woran liegt es, wenn Lebenswege scheitern? An den Umständen? Oder auch am eigenen Unvermögen?
Atemlos folgt man dem Kampf der Romanheldin Adelina. Lukas Bärfuss fasst ihr Gehetztsein und Aufbegehren in präzise, schnelle Sätze, die eine ungeheure Sogwirkung entfalten.