5. Lukas Bärfuss: «Die Krume Brot» (16 Punkte)
Armut kann Leben zerstören – auch in der reichen Schweiz. Davon erzählt der Roman «Die Krume Brot» von Lukas Bärfuss. Im Zentrum steht eine junge Frau mit italienischen Wurzeln im Zürich der 1960er- und 1970er-Jahre. Sprachlich subtil und mit ergreifender Empathie schildert der Roman, wie ihr Leben aufgrund materieller Not zur Hölle wird: Die Frau rackert sich in der Fabrik ab, aber der Lohn reicht nirgendwo hin, um sich und die Tochter durchzubringen.
Im Roman stellt Lukas Bärfuss die Grundfrage: Woran liegt es, wenn Lebenswege scheitern? An den Umständen? Oder auch am eigenen Unvermögen?
Lukas Bärfuss fasst den Kampf seiner Romanheldin in präzise, schnelle Sätze, die eine ungeheure Sogwirkung entfalten.
4. Anthony McCarten: «Going Zero» (17 Punkte)
Der Neuseeländer Anthony McCarten entwirft in seinem rasanten Thriller «Going Zero» ein erschreckend realistisches Szenario: Die US-amerikanischen Geheimbehörden schliessen sich zusammen mit der weltweit grössten privaten Datenbank. Das Projekt muss nur noch einen Test bestehen: Zehn Freiwillige tauchen für 30 Tage unter und dürfen keine Spuren hinterlassen. Wenn die Datenkrake die Menschen nicht finden kann, platzt der Deal.
McCarten erzählt die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. Aus Sicht des Chefs der Datenbank und aus der einer alleinstehenden Bibliothekarin, die zu den Freiwilligen gehört. Damit gelingt ihm der Spagat, ganz nah bei seinen Figuren und ihren Werten zu sein und gleichzeitig den Überwachungskapitalismus zu thematisieren.
McCartens gesellschaftskritischer Thriller ist gründlich recherchiert und brillant erzählt.
3. Monika Helfer: «Die Jungfrau» (18 Punkte)
Nach ihrer Trilogie über die eigene Familie widmet sich Monika Helfer nun einer Jugendfreundin. Gloria heisst sie. In der Tat eine Jungfrau, das schöne Mädchen von einst, dem alles offenstand, das aber irgendwie vergessen hat zu leben. Ein Roman über eine Wiederbegegnung mit sich selbst. Und ein Roman über Literatur und die Frage, ob ein Leben nicht auch in der Einbildung gelebt werden darf. So wie Gloria es tut. Oder Menschen, die Bücher schreiben.
Monika Helfer erzählt mit beschwingter Gelassenheit, Esprit und doppelter Ironie.
2. Doris Knecht: «Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe» (19 Punkte)
Ihre Kinder sind erwachsen und im Begriff, auszuziehen: Ein Wendepunkt im Leben der Hauptfigur – einer Frau um die 60. Sie wird sich eine kleinere Wohnung suchen müssen, denn ohne die Kinder ist die bisherige zu gross und zu teuer. Ein Neuanfang steht an. Dabei hasst sie Veränderungen.
Dieser autofiktionale Roman von Doris Knecht zeichnet das Leben einer Frau, die nicht weiss, wie es für sie weitergeht. Das Schöne daran: Der Ton ist stets optimistisch, nie melodramatisch.
Doris Knechts Geschichte hat mich von Anfang an gefesselt und tief berührt.
1. Toni Morrison: «Rezitativ» (24 Punkte)
«Rezitativ» ist Toni Morrisons erste und einzige Erzählung. Sie handelt von zwei achtjährigen Mädchen, die einige Zeit zusammen in einem Kinderheim verbringen. Doch als die eine das Heim verlässt, verlieren sie sich aus den Augen. Als Erwachsene begegnen sie sich wieder. Doch ihre Erinnerungen an die gemeinsame Zeit im Heim divergieren. Sie haben einen anderen Blick auf die Realität.
«Rezitativ» ist ein Experiment. Das Publikum ist das Versuchskaninchen. Toni Morrison spielt mit der Wahrnehmung der Leserschaft. Wir wissen, dass eines der Mädchen weiss ist und das andere schwarz, allerdings nicht, welches. Es gibt Hinweise, die aber nie eindeutig sind. Und doch ertappt man sich beim Lesen immer wieder dabei, zu überlegen, wer wer ist. Und ist konfrontiert mit dem eigenen stereotypen Denken.
Toni Morrisons Erzählung führt uns auf wenigen Seiten gesellschaftlich relevante und nach wie vor höchst aktuelle Themen vor Augen.