Die Höhepunkte des Jahres
Das diverseste Klassikjahr: Vor allem das Lucerne Festival hat mit einem beispielhaft diversen Sommerprogramm Massstäbe gesetzt und mit dem Motto «Diversity» ein international beachtetes Statement platziert. Im Rahmen dieses führenden Schweizer Klassikfestivals liessen sich das Potenzial und die künstlerischen Positionen unterschiedlichster Musikerinnen und Musikern erleben.
Musikerinnen of Color, Repräsentanten der LGBTQ-Community und Komponistinnen waren in nie dagewesener Vielfalt oder -zahl vertreten. Von einem Solostück über Sklavenhandel von der non-binären Komponist:in Joy Guidry über Sinfonik von Franz Schubert und Florence Price bis hin zu Improvisationen von Tyshawn Sorey.
Damit hat das Festival die Diversitäts-Messlatte in der Klassikwelt hoch gelegt. Eine solche Vielfalt bzw. eine angemessene Repräsentation wird es 2023 aber (noch) nicht wieder halten können, ähnlich wie die meisten anderen Klassik-Player. Letztlich muss auch das Publikum diese Offenheit mittragen.
«Mozart: The Piano Sonatas» von Robert Levin: Diese Aufnahme hat das Potenzial, Hörgewohnheiten zu verändern. Was der Pianist, Musikwissenschaftler und Mozartexperte Robert Levin mit seiner Gesamteinspielung der Klaviersonaten W. A. Mozarts vorlegt, geht weit über das hinaus, was bislang gewagt wurde.
Der 75-Jährige verziert Mozarts Text nicht nur konsequent, historisch informiert und stilecht, sondern er variiert ihn in den Wiederholungen regelrecht und spielt etwa auch Läufe fantasievoll verändert. Dank seiner technisch wie musikalisch meisterhaften Beherrschung dieser Sonaten und seiner Kenntnis des mozart'schen Idioms klingen seine Varianten stets natürlich. Sie scheinen sich wie von selbst aus dem Spielfluss zu ergeben und weiterzuentwickeln.
Damit intensiviert Levin den Ausdruck der Werke und wartet gleichzeitig mit immer neuen, geistreichen Überraschungen auf. Als ob dies nicht schon genug wäre: Levin vervollständigte darüber hinaus drei von Mozarts Sonatensatz-Fragmenten und spielte erstmals alle Sonaten auf Mozarts originalem Hammerflügel. (Moritz Weber)
Die Überraschung des Jahres
«Welcome to the Radio» von Dakota Wayne
«Ob das gut kommt?», habe ich mich gefragt, als mir Dakota Wayne, Kompositionsstudent an der FHNW Basel, eine Idee für unsere Talentwoche vorstellte. Experimentiersüchtige Studierende live im Radio? Improvisierte Elektronik mit SRF 2-Jingles, in der es um Vaterschaft und Walstimmen geht, im Grunde aber um nichts?
Und ob das gut kommt! Dieses dadaistisch-absurde Musiktheater hat eine enorme Kraft entwickelt – nicht zuletzt wegen der ausdrucksstarken Performerinnen Maria Luisa Pizzighella und Phoebe Bognár. (Theresa Beyer)
Der Flop des Jahres
Anna Netrebko
In der Ukraine bricht ein Krieg los und die Welt verstummt erst einmal. Nicht so Anna Netrebko. Ahnungslos oder klar berechnend – ihr ist die Ukraine egal. Zu eng ist sie mit Putin befreundet. Dies, obwohl russische Musikerinnen und Musiker, die sich nicht gegen den Krieg positionieren, von Veranstaltungen ausgeladen und von Opernprogrammen gestrichen werden.
Doch Anna Netrebko schwebt über all dem. Singt in Paris, Madrid, Verona. Shame on Anna? Nein, Schande über alle, die ihr weiter zujubeln. Einer Kehle, die zwar schön singt, aber sonst mehr als nichtssagend ist. (Benjamin Herzog)