Die Höhepunkte des Jahres
«Blutbuch» von Kim de l’Horizon: Wie Kai – oder besser: wie Kim – aus der Kiste kam dieser Erfolg in diesem Jahr. Niemand hatte damit gerechnet, dass ein Debüt derart durchstarten würde. Und dann das: Kim de l’Horizon gewann im Oktober zunächst den Deutschen, im November dann den Schweizer Buchpreis. Was für ein Karriereauftakt!
Kim de l’Horizon, Jahrgang 1992, identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Wie es ist, als non-binäre Person in einer durch und durch binaritätsfixierten Welt aufzuwachsen und zu leben, darum kreist «Blutbuch». Zugleich streift der Text zahlreiche weitere Themen: die Unterdrückung der Frau etwa oder Klassenzugehörigkeiten sowie das Schreiben und die Sprache.
«Blutbuch» ist ein ungemein vielschichtiges Werk. Dringlich, radikal, existentiell, sprachgewaltig. Elf Jahre lang hat Kim de l’Horizon daran gearbeitet. Der Effort hat sich gelohnt: Der Roman wurde zum Bestseller. Er hat den Literaturdiskurs in diesem Jahr enorm bereichert. (Katja Schönherr)
«Hund, Wolf, Schakal» von Behzad Karim Khani: Eine harte Geschichte über eine verlorene Jugend in den Strassen von Berlin: Behzad Karim Khani erzählt sie literarisch, mitunter zart und mit Humor. Der Autor ist in Teheran geboren und kam mit seiner Familie in den 1980er-Jahren nach Deutschland. Er kennt die Atmosphäre, die seinen Erstlingsroman bestimmt.
Packend beschreibt er, wie sich die Jungs im Einwandererquartier beiläufig umarmen – oder auch erschlagen. Diese Mixtur aus Zartheit und Härte machen das Buch aus, genauso wie seine Hauptfigur. In seinem Roman über zwei ungleiche Brüder zeigt uns Karim Khani ein Pflaster, wo sich der Stärkere behauptet. Der Ältere der beiden wird zum Schwerkriminellen, der Jüngere schafft es aufs Gymnasium.
Das Milieu ist bekannt aus Serien wie «4 Blocks». Doch hier lesen wir alles differenzierter, weil gute Literatur das vermag. Das ist so hart wie kunstvoll – mit einem ganz eigenen, musikalischen Sound. (Markus Tischer)
Die Überraschung des Jahres
«Wir haben es nicht gut gemacht» von Max Frisch/Ingeborg Bachmann: Grosse Spannung nach der Freigabe des Briefwechsels zwischen dem Schriftstellerpaar Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Fakten zur Beziehung gab es wenige, Literatur umso mehr, denn in beider Werk hinterliess die schmerzhafte Trennung Spuren. So sehr, dass Frisch fortan als Zerstörer, wenn nicht gar Mörder der genialischen Dichterin galt, die mit nur 47 Jahren tragisch starb.
Nun zeigen die Briefe, dass Frisch so rückhaltlos liebte und so heftig litt wie Bachmann. Überraschend und berührend zu lesen. (Franziska Hirsbrunner)
Der Flop des Jahres
«Die Welt» von Arno Camenisch: Camenischs Stammpublikum liebt seine Bücher für ihre knorrigen Figuren und die Welthaltigkeit, die sie trotz ihrem eng begrenzten Handlungsraum im Bündner Bergdorf ausstrahlen.
Im neuen, autobiografisch gefärbten Roman «Die Welt» verlässt der Erzähler Graubünden: Er reist nach Australien, Spanien und Lateinamerika und beschreibt, wie eindrücklich er dort die frühen Nullerjahre erlebt habe.
Camenisch versucht, in diesen Beschreibungen ähnliche Tiefe zu erreichen wie in seinen vorhergehenden Büchern. Allerdings wirkt sein Roman vor allem angestrengt: zu viele Floskeln, zu viele belanglose Feststellungen, zu wenig Gehalt.
Der Erfolg beim Publikum blieb diesmal aus – da nützte auch der Verlagswechsel zu Diogenes nichts. (Simon Leuthold)