Der Schlager begleitet uns alle seit mehr als 100 Jahren – ob wir wollen oder nicht. Begeben wir uns auf eine ganz persönliche Reise durch die jüngsten 50 Schlagerjahre.
1967. Drei Tage vor Weihnachten. «Der goldene Schuss» im Fernsehen. Der zwölfjährige Heintje sang: «Mama, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen. Mama, einst wird das Schicksal wieder uns vereinen.»
«Was für ein Schicksal?», hab’ ich mich gefragt. Erst später wurde mir klar, der ursprünglich italienische Schlager wurde 1941 übersetzt von Bruno Balz. Der war schwul und sollte deportiert werden.
Vor der Deportation als Hintergrund klingt «Mama» anders: «Mama, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen. Mama, einst wird das Schicksal wieder uns vereinen.» Die Kriegsvergangenheit war in der Andeutung da, aber es wurde geschwiegen.
Die wilden 1960er und 70er?
Meine Eltern und Grosseltern sprachen nicht über den Krieg. Man versammelte sich lieber am Samstagabend am TV. Der Schlager tat der Kriegsgeneration gut, er wattierte die bösen Träume, übertönte das dröhnende Schweigen. Jüngere, wie ich, verstanden wenig, spielten am nächsten Morgen lieber Winnetou und Nscho-tschi.
Die 1970er erinnere ich als krampfhaft sauber. Sex? Der kam erst in der «Hitparade» mit Dieter Thomas Heck im «Zett. De. Eff.» Katja Ebstein, Marianne Rosenberg, Vicky Leandros, Heino, Roy Black. Und Chris Roberts, der sang: «Ich mach’ ein glückliches Mädchen aus dir, jeden Tag, jede Nacht.» Männer- und Frauenbild? Der Zeit entsprechend.
Gesungen wurde von Sehnsüchten und Hoffnungen, vom Gegenüber als Verheissung und manchmal als Erlösung – in «Ein Bett im Kornfeld» oder in «17 Jahr, blondes Haar» oder bei Peter Maffay in «Es war Sommer»: «Ich war 16 und sie 31.» Sex wahrscheinlich ja, aber porentief rein.
Die 1980er: Schlager für alle
Wir machten damals Witze: Schlager sei nur was für Altenheime, «weil die da nicht weglaufen können». Ich ging zum New Wave. Den Schlager traf ich erst in den 80ern wieder. Im Aids-Jahrzehnt.
Marianne Rosenberg – wir hörten alle ihren 1975er-Hit «Er gehört zu mir». Und im Discokeller grölten Schwule und Hetero-Frauen gemeinsam: «… wie mein Name an der Tür.» Ein Schlager für alle.
Und heute?
Heute staune ich. Junge singen Schlager, wie Beatrice Egli oder Vincent Gross. Junge hören Schlager, auch von richtig Alten wie Roland Kaiser – den gibt’s immer noch.
Ich habe gemerkt, Schlager tut gut, denn es zählt nicht, was Menschen sind, es zählt, was sie gerne wären. Schlager deprimiert nicht. Schlager ist Resilienz in Dur: Das Leben mag noch so beschissen sein, es gibt ein Morgen.
Heute muss ich nicht mehr auf Schlager herabschauen. Er leuchtet mir als Konzept ein, denn irgendwann im Leben kommen Momente, wenn der Weihnachts- oder Sensenmann klopft und man alleine ahnt: «Das war’s.»
Dann merkt selbst die kulturbeflissene Krone der Schöpfung, dass sie nur ein Säugetier ist, das manchmal in den Arm genommen sein will oder halt Schlager hört als weltlichen Trost, damit der Sound des Alleinseins verschwindet, diese verdammte Stille.