In den frühesten Höhlenmalereien auf verschiedenen Kontinenten wiederholt sich ein Motiv mit verblüffender Regelmässigkeit: Urmenschen bei der Jagd. Die Erlegung und der anschliessende Verzehr von Wild ist das wiederkehrende Kernthema der frühen Kunst. Die Erfahrung, dass es mit List, ja mit Intelligenz und fortschrittlicher Waffentechnologie (Pfeil und Bogen) gelingt, andere Lebewesen zu Nahrung umzudeuten, musste für unsere Vorfahren etwas Berauschendes gehabt haben.
Bis heute sind es Fleischgerichte, und nicht Gemüsevarianten, welche wichtige Feste der Menschen garnieren: Die Weihnachtsgans, der Sonntagsbraten, die Olma-Wurst, das Wildschwein am Schluss jedes Abenteuers bei Asterix und Obelix. Der gemeinsame Verzehr von Fleisch vermittelt den Menschen noch heute ein Gefühl evolutiver Überlegenheit.
Doch seit geraumer Zeit wird ein Gegentrend immer wichtiger: Der Veganismus – das Leben ganz ohne tierische Produkte. Konsequente Veganerinnen und Veganer essen kein Fleisch. Mehr noch. Sie nehmen überhaupt keine tierischen Produkte zu sich. Keine Milch, keinen Käse, keinen Honig – nichts von alldem. Sie tragen weder Ledergürtel noch Lederschuhe.
Noch vor einiger Zeit galten vegan lebende Menschen als sonderbare Eigenbrötlerinnen und Eigenbrötler. Noch heute lebt erst eine verschwindend kleine Minderheit konsequent vegan. Aber der Lebensstil erhält deutlich mehr Zustimmung aus der Bevölkerung als noch vor einigen Jahren. Ernährung muss heutzutage auch moralisch korrekt sein. Immer neue vegane Produkte füllen die Regale von Schweizer Detailhändlern.
Der neue Boom hat unter anderem mit der Klimakrise zu tun. Auf das Klima hätte eine vegane Welt wohl positive Auswirkungen. Etwa 15 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen stammen nämlich aus der Nutztierhaltung, sagt ETH-Klimaforscher Cyril Brunner. Um die uns gesetzten Klimaziele zu erreichen, sei Veganismus keine Voraussetzung – doch würden wir ab morgen auf Nutztiere verzichten, wäre es im Jahr 2050 0.15 Grad weniger warm. Doch was heisst das?
Global ist das etwa ein Drittel der ganzen Waldfläche, die wir abgeholzt haben. Wenn wir vegan werden würden, würden wir einen grossen Teil dieser Fläche nicht mehr brauchen.
«Als Mensch haben wir uns die Limite gesetzt, die Erwärmung auf 1.5 Grad zu beschränken. Also ist das etwa 10 Prozent davon – es ist also nicht wegzureden», sagt Brunner. Zudem hätten wir grosse Platzansprüche und hätten deswegen global und schweizweit sehr viel Waldfläche abgeholzt. «Global ist das etwa ein Drittel der ganzen Waldfläche, die wir abgeholzt haben. Wenn wir vegan werden würden, würden wir einen grossen Teil dieser Fläche nicht mehr brauchen.»
Erlauben wir uns ein Gedankenspiel. Was würde es nun aber konkret bedeuten, wenn plötzlich alle Menschen vegan leben würden? Innovationskraft und der Wille alles zu verändern wären unabdingbar – auch in der Landwirtschaft. Durch den Wegfall der Tiere würden viele Flächen frei. Doch nicht alle eignen sich für den Ackerbau. Ob es überhaupt möglich wäre, genügend vegane Nahrung für die ganze Weltbevölkerung zu produzieren, ist umstritten.
Vielleicht würden wir darum mehr Mikroalgen essen. Auf dem Meer angebaut, könnten sie in unserem vereinfachten Gedankenspiel als wertvoller Proteinlieferant dienen.
Genauso gut könnte «Vertical Farming» sehr wichtig werden. Oder industriell hergestellte Lebensmittel. Stichwort: Laborfleisch.
Zukunftsforscher und Autor Joel Cachelin hat sich intensiv mit der Utopie einer veganen Gesellschaft auseinandergesetzt. «In einer veganen Welt würden neue Branchen entstehen», sagt Cachelin.
Laborfleisch könnte die Lösung sein, diese Traditionen weiterzusetzen.
Die Leute seien wahrscheinlich nicht bereit, ganz andere Sachen zu essen und auf alte Gewohnheiten zu verzichten, wie eine Wurst oder ein Steak zu essen, meint Cachelin. Aber: «Laborfleisch könnte die Lösung sein, diese Traditionen weiterzusetzen.»
Cachelin sagt: Von heute auf morgen auf Fleisch zu verzichten, wäre für viele Menschen ein Schock. Menschen würden vermutlich wütend werden und rebellieren. «In einem zweiten Schritt würde ich erwarten, dass sehr viel Innovation geweckt wird.»
Lia Bally ist Leiterin der Ernährungsmedizin am Inselspital Bern. Den Anteil pflanzlicher Nahrungsmittel zu erhöhen, hält sie für sinnvoll.
Wir befürchten, dass es zu Mangelerscheinungen kommen könnte.
Doch die ganze Menschheit schon ab morgen radikal vegan zu ernähren – was das für Folgen hätte, könne man heute nicht sagen. Dazu fehlten schlichtweg bis anhin Daten, meint Bally. «Wir befürchten, dass es zu Mangelerscheinungen kommen könnte.» Diesen Mangelerscheinungen könnten Veganerinnen und Veganer jedoch durch Nahrungsergänzungsmittel vorbeugen.
«Es wäre ein bisschen ein Schritt ins Blaue, weil wir schlicht und einfach die Datengrundlage noch nicht haben, um abzuschätzen, was medizinische Langzeitfolgen sind. Was wir natürlich befürchten, ist, dass es zu Mangelerscheinungen kommt, weil man zu wenig Vitamin B12 hat oder Kalzium», meint Bally.
Ob jemals die ganze Menschheit vegan wird, ist deshalb fraglich. Erhebliche Zweifel sind vor allem bei Asterix und Obelix angebracht. Und besonders unbelehrbar wäre natürlich Idefix.