Krieg, Achtsamkeit, Digitalisierung – das sind drei von 34 Begriffen, die es ins «Glossar der Gegenwart 2.0» geschafft haben. Bereits 2004 erschien eine Sammlung. Ulrich Bröckling ist wieder Mitherausgeber dieses Glossars. Er erläutert, wie er die Begriffe ausgewählt hat und was diese über unsere Zeit aussagen.
SRF News: Wieso wurde nach 20 Jahren ein neues Glossar nötig?
Ulrich Bröckling: 2004 war die Zeit kurz nach 9/11, Terror und der Krieg gegen den Terror spielten eine Rolle. Auch das, was man gemeinhin Neoliberalismus nannte, war auf dem Vormarsch. Es ging um Unternehmertum, Selbstverantwortung, Flexibilität. Die Werte dieser Zeit waren die Schlagworte des Glossars von 2004. Seitdem haben wir eine Pandemie, eine Finanzkrise, die Erfindung des Smartphones und die Wiederkehr des Krieges in Europa hinter uns. Unsere Zukunftsvorstellungen und die Gegenwartsdeutungen haben sich in vieler Hinsicht verdüstert.
Wir haben nach Begriffen gesucht, in denen sich zeitgenössische Formen des Regierens, der Selbstformung und der Menschenführung exemplarisch abbilden.
Wie schafft es ein Begriff in Ihr Glossar?
Auswahlkriterium war nicht, ob ein Begriff in der gesprochenen Sprache, etwa in den Medien oder im alltäglichen Sprachgebrauch eine zentrale Rolle einnimmt. Wir haben nach Begriffen gesucht, in denen sich zeitgenössische Formen des Regierens, der Selbstformung und der Menschenführung exemplarisch abbilden. Das reicht von Achtsamkeit über Nudging bis hin zu Krieg, Digitalisierung, Dekolonisierung.
Gibt es einen Überbegriff für Ihre Sammlung?
Nein, das wollten wir vermeiden. Gegenwartsbeschreibungen sind auch immer subjektiv und etwas politisch, weil die Wichtigkeit bestimmter Perspektiven und Begriffe unterschiedlich eingeschätzt wird. Unsere Begriffe sind nicht hierarchisch geordnet, sondern eher wie ein Netzwerk angelegt. Bestimmte Begriffe stehen mit anderen in engerer Verbindung, mit anderen wiederum nicht. Manche Verbindungen sind loser, so dass man sich auch bei der Lektüre in diesem Netzwerk bewegen kann, ohne einem festen, vorgeschriebenen Pfad des Lesens folgen zu müssen.
Wäre Unsicherheit ein möglicher Überbegriff?
Unsicherheit ist ein prominenter Kandidat. Aber wir könnten genauso sagen, dass wir in einer Gesellschaft des Hasses, der Digitalisierung oder der Algorithmen leben. Unter vielen Begriffen lässt sich vieles fassen.
Es macht nicht Sinn, alle fünf Jahre eine neue Gegenwart auszurufen.
Ein Auswahlkriterium war, dass wir Begriffe gesucht haben, die nicht nur in einem Feld auftauchen. Achtsamkeit etwa spielt in Gesundheitskreisen und der militärischen Ausbildung der US-Marines eine grosse Rolle. Gerade dadurch, dass ein Begriff verschiedene Bereiche berührt, wird er besonders exemplarisch für die Gegenwart.
Wird es bis zum nächsten Glossar der Gegenwart wieder 20 Jahre dauern oder erscheint das schon bald?
Es macht nicht Sinn, alle fünf Jahre eine neue Gegenwart auszurufen. Es braucht eine gewisse Zeit, um tatsächlich eine Gegenwart von einer anderen Gegenwart unterscheiden zu können.
Das Gespräch führte Markus Hofmann.