Vor 78 Jahren, im April 1945, sitzt Eva Fahidi abgemagert und kahlgeschoren auf einer Wiese irgendwo in Deutschland und sieht Panzer auf sich zurollen. «Dann sind die Amerikaner ausgestiegen und haben mir und den anderen Frauen aus dem KZ zugerufen: ‹Wer seid ihr? Wieso seht ihr so aus?›», erinnert sich die 97-jährige ungarische Jüdin an ihre Befreiung aus einem Aussenlager des KZ Buchenwald. Die 19-Jährige, die auf der Wiese den amerikanischen Soldaten zu erklären versucht, wer sie ist, hat den Horror des Holocaust hinter sich. Auschwitz und Buchenwald.
Dabei war ihr Leben noch ein Jahr vorher wohlbehütet gewesen. Eva Fahidi, Jahrgang 1925, wächst in Debrecen, ganz im Osten Ungarns, als ältere Tochter eines jüdischen Holzhändlers auf. Die Familie ist wohlhabend. Die Eltern geben sich Mühe, ihre Töchter vor dem wachsenden Antisemitismus in Ungarn zu schützen. Mitte der 1930er-Jahre konvertiert die Familie zum Katholizismus. Eva und ihre jüngere Schwester besuchen eine Klosterschule.
Ankunft in Auschwitz
Doch als die Deutschen 1944 Ungarn einnehmen, kommen auch die Fahidis in die Maschinerie der Judenvernichtung. Von Budapest aus organisiert Adolf Eichmann den Massenmord an den Juden. Vor Ort, in Debrecen, sind es ungarische Polizisten, welche die Juden ins Ghetto treiben. «Wenn du 18 Jahre alt bist und plötzlich schlägt dir so viel Hass entgegen, ist das kaum auszuhalten», erinnert sich Eva Fahidi.
Und da kann sie sich noch gar nicht vorstellen, was noch auf sie zukommt. Im Juni werden Eva und ihre Familie in Viehwaggons nach Auschwitz deportiert. «Wir sind auf einmal angekommen in Auschwitz-Birkenau. Aus einem Lautsprecher dröhnte eine Stimme: ‹Ruhe, Ruhe. Nichts passiert mit Ihnen. Ruhe, Ruhe.›»
An der Rampe steht Josef Mengele, der berüchtigte Lagerarzt. Mit einer knappen Handbewegung weist er Eva in die eine, den Rest der Familie in die andere Richtung. Diese Handbewegung besiegelt die grösste Tragödie in ihrem Leben. Doch das realisiert sie erst später.
Eva kommt ins Arbeitslager. Wo Vater, Mutter und die 10-jährige Schwester sind, weiss sie zunächst nicht. «Es gab im Lager ein Mädchen in meinem Alter, die zu wissen schien, was los ist. Ich habe sie gefragt, wo meine Familie ist. Und sie hat nur auf den Rauch gezeigt, der aus einem Schornstein aufgestiegen ist.» Der Rauch aus den Krematorien von Birkenau.
Der Geruch in Auschwitz
«Das war so unrealistisch, dass ich es gar nicht glauben konnte», sagt die heute 97-Jährige. Sie hat es bis nach dem Krieg nicht glauben können – auch wenn es im Lager andere Anzeichen für die industrielle Tötung von Menschen gibt. «Es lag zum Beispiel ein ganz eigener Geruch in der Luft in Auschwitz. Wir waren nicht sicher, woher dieser Geruch kam. Aber wir hatten doch die Ahnung, dass er von verbranntem Menschenfleisch kommt. Das riecht schrecklich.»
Deine Familie ist dieser Rauch dort.
Die 18-Jährige leidet an Hunger, an Durst und an den zahllosen Grausamkeiten, die sie sieht, riecht und hört. Zum Beispiel die Räumung des Lagers 5, von den Nazis «Zigeunerlager» genannt: «Da hat man sorgfältig über 3000 Roma zusammengetrieben und ebenso sorgfältig ausgerottet. Ich habe gehört, wie 3000 Menschen klingen, die wissen, dass sie jetzt dann gleich ermordet werden.»
Raus aus Auschwitz
«Der 13. August ist mein zweiter Geburtstag», sagt Eva Fahidi. Es ist der Tag, an dem sie Auschwitz verlässt. Zusammen mit 1000 anderen Frauen aus Ungarn und der Slowakei wird sie – wieder in Viehwaggons – ins deutsche Münchmühle gekarrt, ein Aussenlager des KZ Buchenwald.
Hier müssen die Zwangsarbeiterinnen ohne jeden Schutz hochgiftigen Sprengstoff in Granatenhülsen füllen. Eva und eine Mitgefangene schleppen pro Tag achthundert Geschosse. Achthundert Mal fünfzig Kilogramm. «Ich wollte Pianistin werden. Aber diese Schlepperei hat meinem Rücken so sehr geschadet, dass ich nicht lange genug am Klavier sitzen konnte.»
Die Rückkehr nach Ungarn
Der Winter ist hart, das Essen knapp. Aber Eva überlebt. Nach der Befreiung durch die Alliierten im April 1945 bleibt sie ein paar Monate in Deutschland, um zu Kräften zu kommen. Aber auch, weil sie die Rückkehr nach Ungarn fürchtet.
An einem kalten Novembertag steht die inzwischen 20-Jährige wieder vor ihrem Elternhaus in Debrecen und klingelt. «Ein fremder Mensch hat geöffnet. Ich habe gesagt: ‹Lassen Sie mich rein. Das ist mein Haus.› Er antwortete: ‹Da kommen Sie nicht rein. Wir sind schon so viele, da ist kein Platz. Gehen Sie, wohin Sie wollen.›» Das ist der Moment, in dem Eva Fahidi realisiert, wie allein sie jetzt ist. Ihre Familie, auch den grossen Teil ihrer weiteren Verwandtschaft, haben die Nazis ermordet.
Schweigen aus Scham
Die Trauer um ihre Familie, das Grauen des Holocausts wird sie ein Leben lang begleiten. Jeden einzelnen Tag. Und trotzdem gelingt es ihr, sich ins Leben zu stürzen. Sie heiratet zweimal. Sie zieht die Tochter einer verstorbenen Freundin gross. Und sie macht im kommunistischen Ungarn Karriere im staatlichen Aussenhandel.
Über die Zäsur in ihrem Leben, über den Holocaust, schweigt sie, weil sie ihre Familie schonen will, weil man im kommunistischen Ungarn nichts davon hören will. Vor allem aber, weil sie sich schämt. Noch heute wechselt sie von «ich» zu «man», wenn sie darüber spricht: «Wenn man traumatisiert ist, kann man jahrzehntelang nicht über dieses Trauma sprechen. Man verliert den Selbstwert und kann nicht akzeptieren, dass man die blöde Gans war, der man all das antun konnte. Das dauert lange, bis man das überwinden kann.»
Eva Fahidi ist fast 80, als ein Besuch der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau eine Wende bringt. Was sie dort sieht, empört sie. Die Ausstellung wird ihren eigenen Erfahrungen an diesem schrecklichen Ort nicht gerecht. «Die Leute erfassen nicht wirklich, wie es war, in Auschwitz gefangen zu sein.»
Um das zu ändern, beginnt sie, von ihren Erlebnissen in Auschwitz und Buchenwald zu erzählen. Sie schreibt ein Buch. Sie hält Vorträge an zahllosen Schulen in Ungarn und in Deutschland. Sie trifft den deutschen Bundespräsidenten und die Kanzlerin. Und mit über 90 kreiert sie zusammen mit einer jungen ungarischen Tänzerin eine autobiografische Tanzperformance. Sie findet: «Wenn man schon am Leben geblieben ist, soll man sich nicht schonen.»
Wenn man schon am Leben geblieben ist, soll man sich nicht schonen.
Auch ihr Publikum will sie nicht schonen; schon gar nicht zu Hause in Ungarn, wo Rechtsnationale noch immer Miklos Horthy verehren. Jenen Mann, der als Staatsoberhaupt den ungarischen Holocaust duldete, wo Regierungschef Viktor Orban fast schon reflexartig den jüdischen Financier George Soros als Sündenbock benutzt. Der Antisemitismus sei tief verwurzelt in Ungarn, glaubt Eva Fahidi.
Wer bei Eva Fahidi zu Hause auf dem Sofa sitzt, erlebt eine Frau, die sich bis heute nicht wirklich frei fühlt in ihrem Land, sieht das Entsetzen und die Trauer, die über ihr Gesicht huschen, wenn sie von Auschwitz erzählt. Doch wer die gebrechliche 97-Jährige in ihrer Wohnung im Zentrum von Budapest besucht, trifft auch eine lebensfrohe Frau; eine, die sich noch vor wenigen Jahren, mit weit über 80, in einen sieben Jahre jüngeren Mann verliebt hat.
Verzeihen geht nicht, nicht hassen schon.
Was braucht es, um weiterleben zu können nach Auschwitz und Buchenwald? «Man muss grosszügig sein. Nur, wer die Grosszügigkeit hat, nicht hassen zu müssen, kann leben», sagt sie. Das heisse aber nicht, dass sie verzeihen könne: «Ich kann nicht verzeihen, dass sie meinen Vater, meine Mutter, meine kleine Schwester und 49 weitere Verwandte ermordet haben. Das kann man nicht. Aber ich brauche deshalb auch nicht zu hassen.»
Dass sie auch mit 97 Jahren noch vom Holocaust erzählt, das ist ihr persönlicher Kampf gegen den Hass. Solange sie kann, wird sie diesen weiterführen.